Flüchtling Reza hat keinen Geldbeutel

13. September 2015 - von Christof Herrmann - 31 Kommentare

Flüchtling Reza hat keinen Geldbeutel (Foto: Christof Herrmann, 2015)

„Flucht ist erlaubt, wenn man Tyrannen flieht.“ (Friedrich Schiller)

„Hast Du Tagesticket Plus nach Forchheim?“, fragt mich ein arabisch aussehender Mann, als ich am Nürnberger Hauptbahnhof auf den RE warte.

„Klar, kannst gerne mitfahren“, antworte ich.

Ein paar Minuten später sitzen wir nebeneinander im Zug. Wir kommen schnell ins Gespräch. Mein Begleiter kann gerade so viel Deutsch, dass eine Kommunikation möglich ist. Er heißt Reza und stammt aus Afghanistan. Ich schätze ihn auf mein Alter.

Ich möchte wissen, ob er als Flüchtling nach Deutschland gekommen ist. Er bejaht und beginnt, seine Geschichte zu erzählen: „Der Taliban hat über 30 meiner Familienmitglieder ermordet. Meine Frau floh mit unseren Kindern vor vier Jahren nach Deutschland.“

„Und Du?“

„Ich wurde monatelang vom Taliban gefoltert. Dann konnte ich entkommen und kam vor drei Jahren als Flüchtling nach Deutschland.“

Die Narbe unterhalb seines Kehlkopfes fällt ins Auge. Reza winkt jedoch ab. Die stamme von einem Luftröhrenschnitt nach einem Unfall. Nachts habe es in seinem Haus Feuer gegeben. Sein ältester Sohn und er lagen nach Rauchvergiftungen zwei Wochen im Koma. Der Sohn kam schnell wieder auf die Beine und geht mittlerweile aufs Gymnasium. Reza befindet sich nach einem Jahr noch immer in ärztlicher Behandlung. „Die Schmerzen werden mich für immer begleiten. Hier unten und hier oben“, sagt er und legt dabei die rechte Hand erst auf seine Lungen und danach auf seinen Kopf.

Die Frage nach seiner Arbeit lässt Rezas Augen leuchten: „Ich bin Automechaniker!“, sagt er, fügt dann enttäuscht hinzu, dass er in Deutschland nicht arbeiten dürfe. Er zieht einen Stapel Papiere aus der Jackentasche hervor. Zugtickets, Behördenbriefe, einen 5-Euro-Schein und ärztliche Atteste. Auf letzteren wird bestätigt, dass er wegen „in der Gefangenschaft in Afghanistan erlittenen Traumata auf unbestimmte Zeit nicht arbeitsfähig ist.“ Leise sagt Reza: „Meine Frau arbeitet, ich kümmere mich um unsere vier Kinder.“ Die Rollenverteilung ist ihm unangenehm, das merkt man. In seinem Ausweis steht das Geburtsjahr 1984. Er wirkt mindestens zehn Jahre älter. Die Papiere steckt er lose zurück in seine Jackentasche.

„Warum hast Du keinen Geldbeutel?“

„Zu teuer.“

Wir erreichen den Bahnhof Forchheim. Reza lädt mich ein, bei ihm zuhause Tee zu trinken.

„Danke, vielleicht ein anderes mal“, lehne ich das Angebot ab. Ich bin müde, hatte einen ereignisreichen Tag. Von meinen Reisen in den Nahen Osten und nach Nordafrika weiß ich, dass sich Einladungen zum Tee schon mal Stunden hinziehen.

„Du bist immer willkommen, mein Freund“, sagt Reza zum Abschied. Er nennt mir die Hausnummer seiner Wohnung in der Vogelstraße.

Ein paar Tage später stehe ich vor dem Mehrfamilienhaus in der Vogelstraße. Ich zögere lange, ob ich klingeln soll. Dann krame ich aus meinem Rucksack einen Geldbeutel hervor, den ich daheim herumliegen hatte. Er ist leer, außer dem Tagesticket Plus, mit dem Reza und ich von Nürnberg nach Forchheim gefahren sind. Ich stecke den Geldbeutel in Rezas Briefkasten und gehe davon.

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31 Kommentare für “Flüchtling Reza hat keinen Geldbeutel”

      1. Aber man kann doch einfach das machen, wie man es für richtig hält. Am ende ist es dann egal, ob man geklingelt hat oder nicht. Die umgehensweise ist wichtig und das man weiß, warum etwas so oder so getan / verhalten wurde

  1. Lieber Cristof Herrmann,

    bisher habe ich nur hier gute Rezepte und Ideen „geklaut“, aber heute muß ich mich für Deinen Bericht aus dem Zug bedanken.
    Soviel Empathie tut mir einfach nur gut.
    Es ist schwer die Geschehnisse im Moment einzuordnen und ich finde auch immer die Ursachen sollte man angehen, aber wenn Menschen in Not sind kann ich auch nur helfen, sonst nichts.
    Nochmal, vielen Dank und einen schönen Sonntag.

    Liebe Grüße von Regine aus Würzburg.

    1. Danke, Regine. Aufeinander zuzugehen und gut miteinander umzugehen, ist doch selbstverständlich. Und den Minimalisten in mir freut es, dass ich dabei den Geldbeutel losbekommen habe, den ich eh nicht gebrauchen konnte ;-)

      Viele liebe Grüße

      Christof

  2. Was für eine bewegende Geschichte. Was für ein schöner Artikel. Es war völlig in Ordnung, dass Du die Einladung nicht angenommen hast. Auf meinen Reisen in der Türkei bekomme ich oft mehrere Einladungen pro Tag und es wird nicht erwartet, dass man sie sofort annimmt. Wenn sie mehrmals und mit Zeit- und Ortsangabe gemacht werden ist das etwas anderes.

  3. Hallo!
    Danke für die Erzählung!
    Eine ganz andere frage stellt sich mir hier:
    In unserem bürokratischen System darf man nicht mehr arbeiten, wenn man will. Ich finde DAS am entwürdigsten! Manchmal ist eine Arbeit, die man gerne macht, mehr Wert als jede Therapie. Und es zeigt mir auch, dass hier wieder mal Zwangsbeglückung stattfindet….. Ohne Rücksicht auf Mentalität und Ehrgefühl.

    1. Das habe ich in dem Moment auch gedacht, als ich das Attest flüchtig zu Gesicht bekommen habe. Allerdings kennen wir nicht die ganze Geschichte. Solange das Gegenteil nicht bewiesen ist, gehe ich davon aus, dass die Ärzte, Psychologen und/oder Behörden einen guten Job gemacht haben …

  4. Lieber Christof,
    es ist sicher schlimm, was er erlebt hat, aber jetzt sind er und seine Familie in Sicherheit.
    Ich selbst habe auch keine Familienangehörige, wegen einer Gehbehinderung bin ich invalid und brauche ebenfalls Schmerzmittel.
    Ich jammere nicht, sondern bin glücklich mit meinem Leben. Die Newsletter von dir, tragen dazu bei :-) Um glücklich zu sein, braucht man nicht viel, ist meine Meinung.
    Danke für deine wundervollen Beiträge und einen herrlichen Sonntag,
    Ingrid aus Graz

  5. Lieber Christoph,
    danke für deinen berührenden Post. Ich finde es aktuell besonders wichtig, Einzelschicksale zu kennen. Denn das sind sie doch, die gerade bei uns ankommen, Frauen, Männer und Kinder mit Geschichten wie die von Reza und keine große, anonyme Masse.
    LG,
    Andrea

  6. Lieber Christof, Afghanen sind das anderes, die Gastfreundschaft geht außerordentlich weit. Natürlich muss man es gewöhnt bzw. gelernt haben, das Gespräch zum gegebenen Zeitpunkt zu beenden. Das ist allerdings immer der Fall, auch wenn Du bei Deutschen oder sogar Verwandten bist, Du musst entscheiden, wann Du gehen willst. Denn „rausschmeißen“ wird Dich keine. Das Weggehen ist Situationsbedingt, d.h., Du musst den richtigen Moment abpassen und vielleicht hilft ja auch eine kleine Notlüge. Insofern möchte ich Dir nicht vorwerfen, dass Du das nicht beherrschst, aber nicht zu Klingeln, lass ich nicht gelten. Die Geldbörse und das Ticket ohne Kommentar in einen Briefkasten zu werfen, das wäre für mich beleidigend. Vielleicht hast Du aber noch eine Gelgenheit es nachzuholen. Das wünsche ich Dir.

  7. Vielen Dank für Eure Kommentare. Wundere mich nur etwas, dass so ein Aufhebens um mein Nichtklingeln und den Geldbeutel gemacht wird. Sollte eine nette Geste seine und ich habe nicht groß darüber nachgedacht. Bin mir sicher, dass ich Reza damit beleidigt habe.

  8. Reza lebt seit 3 Jahren in Deutschland ;-) er weiss, dass wir hier etwas anders ticken als die Leute bei ihm zu Hause – und ich bin sicher, dass er das Portemonnaie-Geschenk als liebe Geste erkennt, und nicht als Beleidigung ansieht ;-) dazu ist er lange genug hier, um das einschätzen zu können.

  9. Hallo Christof, ich komme aus dem ähnliche kultur wie Reza’s Herkunft, ich denke dass du es alles richtig gemacht hast. Wer weisst vielleicht hätte er sich geschämt wenn du ihm das Portemonnaie persönlich gegeben hast. Der ist bestimmt dir sehr dankbar, ich auch:)

  10. Hallo Susanne, hallo Sara,

    dann hab ich ja doch nichts falsch gemacht :-) Man kann ja auch nicht verlangen, dass ich nach rund 27 Minuten (so lange dauert die Fahrt im RE von Nürnberg nach Forchheim) mit jemanden zum Tee trinken in die Wohnung gehe.

    Wichtig war mir mit diesem Blogartikel vor allem, den Flüchtlingen eine Stimme zu geben (und das im doppelten Sinne).

    Viele Grüße

    Christof

  11. Lieber Christof,
    ein sehr berührendes Erlebnis. Danke für’s Teilen und vorallem für Deine liebevolle Zuwendung dieses gebeutelten jungen Mannes. Du wirst ihm mit Sicherheit eine grosse Freude – vorallem im Herzen gemacht haben.
    Ich habe mal eine Gruppe junger Flüchtlinge kennengelernt. Ich legte ihnen nahe, dass sie die deutsche Sprache gut lernen sollen, damit sie hier ein gutes Leben aufbauen können. Einige erzählten mir Ausschnitte über das, was sie durchgemacht haben und dass der Kopf von dem Erlebtem so voll ist, dass sie sich kaum konzentrieren können die Sprache zu lernen. Manche von ihnen wissen nicht einmal wo ihre Familien sind.
    Das Bezeichnende an diesen jungen Flüchtlingen war, dass sie eine unglaubliche Herzenswärme verströmten. Und das in so jungem Alter! Ich hab ein paar von ihnen umarmt. Ich bin mir sicher, dass sie das nicht seltsam fanden (ich als Frau und so), sondern genauso verstanden haben wie ich es gemeint habe.

    Ganz herzliche Grüsse

    P.s. Er wird das bestimmt nicht als Beleidigung auffassen, dass Du die Einladung abgelehnt hast und/oder nicht geklingelt hast. Aber ich glaube schon, dass er das auch ernst gemeint hat, da er dir auch seine Hausnummer gegeben hat. Es ist auch nicht ganz einfach für Flüchtlinge Freunde hier zu finden, so stelle ich mir vor …

    1. Hallo liebe Güler,

      schönen Dank für Deine Zeilen.

      Bin mir sicher, dass die Flüchtlinge Deine Geste des Umarmens richtig interpretiert haben und sich noch heute positiv daran erinnern!

      Für die meisten von uns ist es kaum vorstellbar, wie schwierig ein Alltag sein kann, wenn man Verfolgung, Vertreibung, Folter, Flucht und anderes Schlimmes erlebt hat. Am ehesten wird es vielleicht greifbar, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat – sei es durch Tod oder Trennung. Dann kommt man kaum mehr zurecht, weil „der Kopf von dem Erlebtem so voll ist“.

      Viele Grüße aus Franken

      Christof

      1. Dein Kommentar zur Umarmung hast Du schön geschrieben. Danke.

        Ja, es ist kaum vorstellbar, was diese Menschen schon alles erlebt haben.

        Sehr verstörend finde ich wie andere EU-Länder mit der Asylflut umgehen.
        Sehr ergreifend hingegen wie wieviele wundervolle Menschen die Flüchtlinge in ihrem Land willkommen heissen und/oder helfen (wollen).
        Es sind diese Menschen, die die Welt zu einem helleren, wärmeren Ort machen und ihre liebe-vollen Gesten als Spuren in den Herzen hinterlassen.

        Da ist mir der Astronaut Alexander Gerst eingefallen, der beschreibt wie klein unsere Erde in Wahrheit ist.
        Im Grunde sind wir aus dem All gesehen EINE Menschenfamilie.

        Hier der kleine Clip zum Lauschen:
        https://www.youtube.com/watch?v=WuuZ_ATlX-A

        Ganz liebe Grüsse,
        Güler

  12. Vielleicht ist der Geldbeutel für Reza nicht so wichtig; für uns ist er wichtig, weil da (meistens) die (Ausweis)Papiere drin sind. Habe eine Zeitlang im Lager LGZ als „Freiwillige“ gearbeitet, „Deutsch“ gelehrt oder „Kleiderkammer“ gemacht, bis zur Schließung. Ist auch gut, wenn man schon in einigen Ländern war und sich vorstellen kann, wie es den Menschen hier geht.Trotzdem wird Reza deine Geste zu würdigen wissen und sich freuen! Daher finde ich sie gut, „menschlich“.
    Liebe Grüße
    Wilta

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