Kann weg

6. November 2018 - von Sabrina Demmeler - 17 Kommentare

Kann weg - Foto: pixabay.com - Monfocus

Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Sabrina Demmeler. Den Text schrieb sie während eines Seminars an der „Akademie der bayerischen Presse“. Er wurde 2019 als zweitbestes Feature ausgezeichnet. Du kannst den Artikel auch hier als PDF lesen, herunterladen und ausdrucken.

Immer mehr Menschen leben mit immer weniger Dingen. Minimalismus ist nicht nur ein Nischentrend, sondern Vorbote eines gesellschaftlichen Wandels.

In Christof Herrmanns Second-Hand-Regal aus hellem Holz stehen 50 Bücher. Für manche sind 50 Bücher viel, für Christof ist es wenig. Vor zehn Jahren besaß er insgesamt 3.000 Romane, Nachschlagewerke und Reclam-Hefte. Sein altes Schlafzimmer teilte er mit 5.000 CDs und Schallplatten. Heute sind alle weg und er lebt nur mit Dingen, die er wirklich braucht.

„Ich war damals ein Sammler“, sagt Christof Herrmann über sein jüngeres Ich. Der Minimalist kauft nur noch das Nötigste. „Minimalismus bedeutet für mich ein Leben ohne Ballast und jeder Mensch definiert selbst, was Ballast ist.“ Für Herrmann sind es unnötige Dinge, vermeintliche Verpflichtungen, negative Gedanken und Beziehungen, die ihm nicht gut tun. Auf seiner Website www.einfachbewusst.de teilt er unter anderem Tipps für das Ausmisten. Mittlerweile schreibt Christof Herrmann den meistgelesenen Blog zum Thema Minimalismus im deutschsprachigen Raum. Über 60.000 Menschen besuchen seine Homepage pro Monat. Zu seinen 13.000 Newsletter-Abonnenten kommen täglich zehn neue hinzu.

Minimalismus gewinnt an Bedeutung

Die steigenden Leserzahlen von Herrmanns Blog zeigen, dass immer mehr Menschen praktische Anleitungen suchen, um sich von ungeliebtem Ballast zu befreien. Viele wünschen sich mehr Klarheit, Einfachheit und Ruhe. Aber Ballast müssen nicht immer 5.000 Tonträger sein. „Alle Dimensionen menschlicher Existenz sind vollgepfropft“, findet Professor Niko Paech von der Universität Siegen. Das reiche von Wohnungen, Häusern und Terminkalendern bis zu Möglichkeiten beruflicher Entfaltung. Paech ist Volkswirt und forscht insbesondere zur Nachhaltigkeit. Minimalismus ist für ihn der Vorbote eines gesellschaftlichen Wandels. Denn der aktuelle Wirtschaftsstil sei auf Wachstum ausgerichtet, der wiederum auf steigendem Konsum aufbaue. Das lässt sich laut Paech so nicht fortsetzen ohne Umwelt und Menschen zu schaden. „Das Angebot an Optionen ist geradezu explodiert, der Tag hat aber nach wie vor nur 24 Stunden. Das führt zu einer Verwendungskonkurrenz um die nicht vermehrbare Ressource Zeit“, erklärt Paech. Dadurch habe sich Zeit in den letzten Jahren zu einer der kostbarsten Ressourcen entwickelt – noch wertvoller als materieller Besitz.

Auch Christof Herrmann wünschte sich mehr Zeit. Er arbeitete als Programmierer und hatte oft das Gefühl, sinnlose Aufgaben zu erledigen. 2006 kündigte er Job und Wohnung, um verschiedene Länder auf seinem Fahrrad zu bereisen. Seine Habseligkeiten stellte er bei den Eltern unter. Über ein Jahr fuhr Christof Herrmann um die Welt und vermisste keines seiner eingelagerten Sammlerstücke. „In jeder der fünf Fahrrad-Taschen hatte ich ein Zimmer dabei. Das Badezimmer war im Kulturbeutel, die Küche bestand aus einem Camping-Kocher und etwas Geschirr. Der Kleiderschrank waren ein paar T-Shirts und Hosen.“ Zurück in Deutschland erschlug ihn die Masse an losem Kram in den Umzugskartons. Er wollte lieber mit dem leichten Gefühl von fünf Fahrrad-Taschen als mit über 5.000 Tonträgern in seine neue Wohnung einziehen. Also verkaufte oder verschenkte Christof Herrmann alles, was er nicht mehr brauchte. Heute hat der Blogger zwar wenige Dinge, aber diese schätze er umso mehr.

Konsumstress plagt viele Menschen

Für Volkswirt Paech ist Christof Herrmanns Lebensstil ein Beispiel für die Befreiung vom Überfluss. „Damit Konsumaktivitäten überhaupt Nutzen stiften können, muss ihnen ein Minimum an eigener Zeit gewidmet werden“, so Paech. Sei das nicht der Fall, gerieten Menschen unter Stress. Wer das fünfzigste T-Shirt kauft, weil es so günstig war, holt sich viele Optionen an Kleidungsstücken ins Haus. Laut einer Greenpeace-Studie liegen aber 40 Prozent ungetragen im Schrank. Damit stresst der halbe Kleiderschrank seinen Besitzer unterbewusst und verkompliziert die Antwort auf die Frage „Was ziehe ich nur an?“. Wer aber seinen Konsum bewusst beschränkt, schützt sich laut Paech vor einer Reizüberflutung.

Diese kann unter anderem von den 10.000 Dingen ausgehen, die der Durchschnittseuropäer laut Statistischem Bundesamt besitzt. Vielen fällt es schwer, den Überblick über all die Besitztümer zu behalten. Christof Herrmann schaffte es mit verschiedenen Tricks, seine Wohnung von unnötigem Wohlstandsballast zu befreien. Auf seinem Blog erklärt er unter anderem die „Tabula-Rasa-Methode“. Dabei wird ein Bereich, zum Beispiel der Kleiderschrank, komplett leer geräumt. In den folgenden Tagen und Wochen wandern nur die Jeans, Blusen oder Hemden zurück, die man wirklich getragen hat.

Aufräum-Coaches helfen beim Ausmisten

Manche Menschen brauchen jedoch mehr praktische Unterstützung beim Ausmisten. Mittlerweile können Aufräum-Coaches zum gemeinsamen Ausräumen beauftragt werden. Angela Ludwig gehört dazu und ist auch bekannt als „Frau Ordnung“.

Die Diplom-Bibliothekarin ist seit zwei Jahren selbstständig und mistet Wohnungen rund um Stuttgart aus. Sie hat schon viele gesehen und bestätigt, was Christof Herrmann fühlte und Paech kritisiert: „Die Menschen ersticken an ihrem Zeug.“ Angela Ludwig kennt alle Ausreden von „das hat mal Geld gekostet“ bis zu „es war ein Geschenk“. Aber beides seien keine Gründe, um Dinge zu behalten, die keinen Nutzen im Haushalt stiften. Trotzdem ermutigt sie ihre Kunden nur das wegzugeben, wozu sie bereit sind. „Wenn jemand 3.000 Bücher hat und jedes Mal glücklich ist, wenn er hinsieht, sollte er sie behalten.“ Für Ludwig ist Minimalismus immer eine Frage der Definition, denn was für eine vierköpfige Familie minimalistisch sei, sei für den Single-Haushalt vielleicht schon zu viel.

Disziplin fehlt, Bewusstsein ist vorhanden

Kunden überlegen sich nach einer  Sitzung mit „Frau Ordnung“ genau, was sie kaufen und wirklich brauchen. Diese Disziplin vermisst Paech noch bei vielen anderen, aber das Bewusstsein sei bereits vorhanden. Für Christof Herrmann geht die minimalistische Denkweise über den Kleiderschrank hinaus. Er setzt sich nicht mehr unter Druck, überall dabei sein zu müssen. Und in seinem Mail-Posteingang gibt es nur einen Ablageordner, der „Behalten“ heißt statt komplexe Ordnerstrukturen. „Durch den Minimalismus fühle ich mich freier, selbstbestimmter und habe mehr Zeit“, fasst der Blogger zusammen. Das bestätigt auch Paech, denn Ballast abzuwerfen bedeute auch Stressfreiheit.

Manchmal erreichen Herrmann Fotos seiner Leser. Darauf präsentieren sie Vorher-Nachher Bilder von Ausmistaktionen mithilfe seiner Tipps. „Es ist erstaunlich, wie Leute mich daran teilhaben lassen und ich bin jedes Mal begeistert.“ Auch Aufräum-Coach Angela Ludwig freut sich, dass keiner ihrer Kunden das Loslassen des Wohlstandsmülls mit ihrer Hilfe je bereut hat. „Aber wenn ich abends das Zeug meiner Klienten wegfahre und sie alleine zurückbleiben, kann es passieren, dass sie erst mal weinend auf der Couch liegen.“

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17 Kommentare für “Kann weg”

  1. Hallo Sabrina, hallo Christof,

    ich wünsche mir auch mehr Minimalismus, in meinem und unser aller Leben. Die Vorteile liegen auf der Hand und leuchten mir ein.

    Dieser Artikel ist eine gute Ergänzung zu deinem Interview mit Herrn Paech, Christof, das damals sozusagen mein Einstieg zum Minimalismus war. Seitdem bin ich eine treue Leserin hier.

    Liebe Grüße von Sonja

    1. Liebe Sonja,

      auf Christofs Seite bist genau richtig, wenn Du Dir mehr Minimalismus im Alltag wünschst :). Es werden immer mehr Menschen, die sich nach Veränderung sehen – egal ob im Kleiderschrank oder im gesamten Wirtschaftskreislauf. Toll, dass Du in Deinem Leben damit gestartet hast! Durch eigenes Handeln können wir auch andere Menschen inspirieren, bewusster zu werden.

      Viele Grüße von
      Sabrina

  2. Schöner Artikel Sabrina,

    ich glaube zwar nicht, das dieser Wandel in der Breite der Gesellschaft ankommt, aber denke ich auch, das es durchaus eine wachsende Zuschauerschaft gibt, die dieses Thema interessiert und evtl auch in der ein oder anderen Weise angeht.

    Schön ist auch, das du darauf hinweist, das es „den“ Minimalismus nicht wirklich gibt. Jeder legt auf andere Dinge wert und das ist denke ich auch gut so. Der Minimalismus funktioniert wohl nur, wenn es kein ZWANG ist.

    Viele Grüße
    Bert

    1. Lieber Bert,

      vielen Dank! Der Artikel lebt von den spannenden Zitaten der Interviewpartner. Frau Ludwigs Aussage hilft sicher vielen, die noch am Anfang ihrer Reise stehen. Denn wer sich zwingt wird am Ende – wie du sagst – nicht lange am Ball bleiben. Seh ich auch so :)

      Viele Grüße von
      Sabrina

  3. Ein schöner Artikel, an den ich gern glauben bzw. auf dessen Eintreten, die kommenden Einsichten ich hoffen möchte!

    Ein bisschen Skepsis sei mir aber erlaubt;-) Der Mensch bleibt immer Mensch und das Ansammeln von Dingen, die man irgendwie irgendwann mal gebrauchen kann, ist eine uralte, ziemlich gute Überlebensstrategie. Diese verkehrt sich angesichts der gegenwärtigen Gütervermehrung ins groteske Gegenteil und wird dadurch für viele Menschen zum persönlichen Hemmschuh. Vor sechzig, siebzig Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, noch Brauchbares wegzugeben, weil es schlichtweg nichts oder nur das Allernötigste gab. Daher ist diese Einstellung auch eine Generationenfrage, denn es herrschte, nennen wir es mal Zwangsminimalismus, den es in den Nachkriegsjahren zu überwinden galt. So geht die Entwickklung einmal hin und einmal her. Und wieder hin…

    Richtig und gut ist freileich, dass man sich nicht mit mehr Dingen „behängen“ sollte, als man wirklich braucht (und ein bisschen was für Auge und Herz). So zu leben, das ist auch mein Ziel.

    Danke Euch Beiden, dass ihr Eure Gedanken und Ideen mit einer großen Leserschaft teilt!

    1. „Richtig und gut ist freileich, dass man sich nicht mit mehr Dingen ‚behängen‘ sollte, als man wirklich braucht (und ein bisschen was für Auge und Herz).“ – das hast Du sehr schön gesagt.

      Viele Grüße

      Christof

    2. Hallo Thomas,

      vielen Dank für Deinen Kommentar! Ich bin da ganz bei dir – während meiner Recherche hatte ich genau denselben Gedanken. Aber dieser ist einen ganz eigenen Artikel mit passenden Interviewpartnern Wert… und meine Zeichenzahl für den Kurs war leider beschränkt ;).

      Viele Grüße von
      Sabrina

      1. Auf den Artikel bin ich schon jetzt gespannt! Der Nachkriegs(kinder)generation die Haltung der jungen Generationen und umgekehrt zu vermitteln, ist eine herausfordernde Aufgabe, gerade im Hinblick auf Besitz und die Loslösung von selbigem. Es versteckt sich hier viel Konfliktpotential, vor allem für Familien.

        Viele Grüße!
        Thomas

  4. Seit zwei Jahren „miste“ ich konsequent aus. Nun trenne ich mich noch vom Haus und ziehe in eine kleine 2 1/2 Zimmer Wohnung. D.h. nochmals reduzieren. Dadurch gewinne ich mehr Zeit für die Dinge, die mir wichtig sind: meine Kinder und Freunde treffen, in der Natur unterwegs sein usw. Ich freue mich drauf.

  5. Hallo Christof,
    ein sehr schöner und auch präziser Beitrag warum wir minimalistisch Leben sollten.
    Mir geht es weiterhin auch so und mein Besitzt dampft sich weiter ein auf die wirklich benötigten Dinge im Leben.
    Hast Du mal eine aufzählung gemacht, was Du alles noch besitzt? Bzw. was Du vllt. für Mulitfunktionsgeräte hast? Das würde mich mal interessieren.
    Liebe Grüße
    Daniel

    1. Hallo Daniel,

      der Artikel ist nicht von mir, sondern von der Sabrina.

      Ich habe keine Ahnung, wieviele Dinge ich noch besitze, vielleicht 1.000 oder 2.000 Stück. Wichtiger ist mir, möglichst nur Dinge zu besitzen, die ich wirklich (ge)brauche bzw. die mein Leben bereichern. An „Mulitfunktionsgeräten“ fallen mir spontan nur Laptop, Smartphone, Schweizer Taschenmesser, Buff und ähnliches ein.

      Viele Grüße

      Christof

  6. Hallo Daniel und Christof,

    Smartphone und Tablet. Hab mein neues Buch Seelenkratzer komplett am Tablet geschrieben. Ging super! Da geht es um Skin Picking und Trichotillomanie loswerden.

    Einen Haken hat Minimalismus für mich: Wohne kleiner, zahle mehr. Die kleinen Wohnungen sind hier nicht vorhanden oder verhältnismäßig teuer. Sodass ich erst mal hier bleibe. Tiny Häuser finde ich auch zu teuer. Oder man ist ein Bastler.

    Lg
    Tanja

    1. Hallo Tanja,

      gründe doch eine WG oder nehme einen Untermieter auf ;-) Statistisch haben Wohnungen zwischen 40 und 80 qm den niedrigsten Quadratmeterpreis. Wohnungen unter 40 und über 120 qm haben die höchsten Quadratmeterpreise.

      Viele Grüße

      Christof

  7. Dein Blog ist einfach Gold wert. Beschäftige mich seid zwei Wochen mit dem Thema Minimalismus :) versuche auch mein Konsumverhalten zu verändern, da ich dazu neigen mich mit Sachen zu belohnen oder mich wieder glücklicher damit zu machen :(

    Lg Anna

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