„Eine echte Begegnung kann in einem einzigen Augenblick geschehen.“ (Anaïs Nin)
Bald ist es sechs Jahre her, dass ich mit dem Fahrrad in China war. Zwei Monate lang fuhr ich durch die Provinz Yunnan, die im Südwesten der Volksrepublik liegt. Subtropische Vegetation mit Reisfeldern und Teeplantagen und die spektakuläre Bergwelt der Ausläufer des Himalaya sorgten für viel Abwechslung.
Meist radelte ich auf holprigen, wenig befahrenen Straßen. Lediglich zwischen Lijang und Dali herrschte dichter Verkehr. Auf halbem Weg zwischen den beiden Großstädten tauchte auf der anderen Straßenseite ein Hund auf. Er beachtete mich nicht und blickte auf ein Feld, in dem er eine Maus oder etwas anderes entdeckt hatte. Normalerweise habe ich Respekt vor Hunden und versuche unbehelligt vorbeizukommen. Doch in China geht von ihnen kaum Gefahr aus. Das liegt daran, dass sie dort nicht viel zu bellen haben. Einmal musste ich mit ansehen, wie in einem Hof ein Hund eingefangen und massakriert wurde, um vermutlich im Kochtopf zu landen.
Jedenfalls war der Hund auf der anderen Straßenseite ungefährlich. Ein dürrer Mischling, weiß Gott keine Schönheit, aber ein liebenswerter Kerl mit treuem Hundeblick. Ich hielt an und pfiff in seine Richtung, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er hob den Kopf, zögerte einen Moment und lief auf mich zu. Weit kam er nicht. Kaum hatte er die Straße erreicht, erfasste ihn ein Lkw, riss ihn zu Boden und überrollte ihn mehrfach. Der Hund war auf der Stelle tot.
Fassungslos starrte ich auf den Asphalt. Ich war den Tränen nahe. Was hatte ich nur angerichtet! Der Verkehr war so stark, dass ich den Hund nicht einmal von der Straße tragen konnte. Nachkommende Fahrzeuge rissen seine Gliedmaßen auseinander.
Ich setzte mich in den Sattel und fuhr mit der Gewissheit weiter, diese Begegnung nie wieder vergessen zu können. Und ich fuhr auch mit der Gewissheit weiter, dass der Tag, an dem ich den Hund tötete, der Tag war, an dem ich Vegetarier wurde. Vegetarier im Geiste zunächst, der aus alter Gewohnheit noch manchmal Fleisch aß, es aber nicht mehr genießen konnte. Zwei Jahre später begann ich, mich fleischlos zu ernähren. Seit Anfang 2012 kommt mir auch Fisch nicht mehr auf den Teller.
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Sicher ein Erlebnis das sich so kaum ein Mensch wünscht. Vielleicht aber auch eines das deine Bewußtheit zum Leben verstärkt. Mir fällt dazu etwas ein, ein Spruch den ich mal hörte der es ermöglicht auch mit solchen Situationen zu Leben. Ohne sie als Schrecken in der Erinnerung zu haben. Er lautet: „Liebe deine Geschichte, es ist der Weg den Gott, mit dir gegangen ist.“
Ich denke das keiner der Mensch wäre der er ist, und auch nicht sein kann. Wenn er das außer acht lässt. Es ist wie in dem Film Sliding Doors, was ist wenn ich nur einen wichtigen Punkt anders erlebt hätte? Einen Zug verpasst, eine andere Straße genommen hätte? Wäre ich dann noch der, der ich nun bin?