Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Johanna Wagner. Der Text ist ihrem Buch Schlaflos in der Regenzeit entnommen.
Manchmal glaube ich, eine große Idee wolle die Menschen gezielt benebeln und beschäftigen, separieren und verwirren. Jene Idee lenkt den Markt, die Konzerne, die Politik und schließlich die angeblich freien Bürger, denen am Ende doch keine andere Wahl bleibt, als zu konsumieren, was angeboten wird und sich den Errungenschaften der Technik hinzugeben, weil das moderne Leben es verlangt. Wie eine heimtückische Seuche verbreitet sich der westliche Lebensstil über den Globus und entzweit von unserer wahren Natur. Nur wenige schrecken zurück, die meisten möchten infiziert werden. Das freie, moderne Leben wirkt magnetisch. Es lockt mit Vereinfachung, aber endet in Problemen.
Und während viele von dem fortschrittlichen Leben träumen, ist es für uns ganz gewöhnlich. Wir leben, denken, lernen, arbeiten, konsumieren, essen, erkranken und sterben, wie wir zu leben, denken, lernen, arbeiten, konsumieren, essen, erkranken und sterben lernten und gewöhnen uns im Laufe der Zeit an die seltsamsten Dinge.
Doch wenn ich alles Erlernte ausradiere und die Gegenwart als Fremde von außen betrachte, verstehe ich die Welt nicht mehr:
Wir hängen Menschen an Schläuche, setzen ihnen künstliche Gelenke ein, erweitern ihre Gefäße und bringen ihr Herz künstlich zum Schlagen. Wir halten die Körperfunktionen am Leben, während die Seele vielleicht schon auf einem ganz anderem Weg ist. Doch in unserer Welt zählt nur das Sichtbare und gesund ist, was funktioniert.
Wir durchleuchten unsere Körper, aber nicht den Sinn des Lebens.
Wir dürfen die Menschen nicht sterben lassen, aber wir dürfen sie am Leben halten. Dürfen wir dann nicht doch über ihren Tod richten, indem wir über ihr Leben richten?
Wir schauen den ganzen Tag in Displays und immer weniger in Gesichter. Wir haben die beste Unterhaltung, aber führen seltener Gespräche – dafür haben wir keine Zeit, obwohl alles immer schneller geht.
Wir beschleunigen, aber schreiten rückwärts.
Wir haben es leichter, aber werden schwerer.
Wir sind überernährt, aber unterversorgt.
Wir haben es bequemer, aber werden krank.
Wir haben Wohlstand, aber leiden an Wohlstandskrankheiten.
Wir haben die beste Medizin, aber die meisten Kranken.
Wir sind das Werkzeug unseres eigenen Erfindungsgeistes geworden – die Welt wird immer komplexer, obwohl das Leben einfacher werden soll. Das ist der Widerspruch, dem niemand widerspricht.
Weil wir günstiges Fleisch wollen, produzieren wir Tiere wie Materie und bauen Futterpflanzen an, obwohl Menschen hungern.
Wir sind uns selbst am Nächsten und doch oft meilenweit entfernt. Wir sind zu beschäftigt und ständig unterwegs. Wir können zu jeder Zeit an jedem Ort sein, sind aber nur noch selten in der Gegenwart. Die Welt wird immer kleiner, wir können sie sogar nach Hause holen. Alles ist möglich – WIR SIND FREI! Doch die Freiheit macht uns zu ihren Gefangenen. Wenn alles möglich ist, hat man tausend Möglichkeiten und immer zu wenig Zeit. Wir sind die Sklaven unserer Zeit: Von unseren Familien getrennt und mit der Arbeit verheiratet, weil das moderne Leben flexible Menschen verlangt.
Unsere Bestimmung wird von der Gesellschaft bestimmt – wir sind nicht mehr für etwas berufen, wir erlernen einen Beruf. Wir werden immer älter, aber dürfen kaum noch Kind sein. Wir lernen immer früher zu denken, aber können nicht mehr nicht denken. Unser Kopf analysiert und denkt, bis er ausgebrannt ist, weil der Motor keine Energie mehr hat. Wo tanken wir auf?
Wir zerlegen die Welt unter dem Mikroskop und verlernen das Staunen. Nicht alles ist mit dem Kopf begreifbar, aber das begreift der Fortschritt nicht. Wir haben die ganze Welt analysiert, uns sogar eine Parallelwelt erschaffen, doch offline sind wir orientierungslos geworden. Wir fühlen uns allmächtig – dabei verlieren wir die Kontrolle. Nur wenige glauben an Gott, die meisten glauben an sich selbst. Doch wenn wir uns selbst nicht kennen, an wen glauben wir dann?
Wir ergötzen uns an der Materie und am Fortschritt, die uns die Freiheit bringen, die uns krank macht. Aber dafür gibt es ja die weißen Pillen, die Symptome lindern, aber die Ursachen verkennen. Wir wollen besitzen, aber werden von allem besessen. Wir verwurzeln uns in der Erde, aber zerstören sie. Doch wir haben für alles eine Lösung. Vor allem für die Probleme, die wir ohne den Fortschritt nicht hätten. Nur die Bedienungsanleitung für das eigene Leben haben wir irgendwo im Überfluss verloren.
Wir wollen immer mehr und übersehen was wir haben. Wir suchen das Glück um uns herum und spüren nicht, dass wir es in uns tragen. Wir sind die Unterzahl, aber verbrauchen die meisten Ressourcen. Wir müssen nicht mehr frieren – wir haben sogar die Heizung in der Welt angemacht. Wir haben die fortschrittlichsten Maschinen, aber die eigenen Hände vergessen. Wir konsumieren Produkte aus anderen Kontinenten, aber können keinen eigenen Garten bestellen – nicht einmal online. Wir sind frei, aber abhängiger als je zuvor. Und obwohl wir wählen dürfen, beklagen wir, keine Wahl zu haben.
Wir – ist der westliche Lebensstil.
Wir – ist der hohe Lebensstandard.
Wir – ist das Vorbild für viele Menschen auf der ganzen Welt, die bisher in ihren einzigartigen Kulturen zu Hause waren. Allmählich verschwinden sie in einer seichten Monotonie.
Sind das Klagelieder auf hohem Niveau oder berechtigte Zweifel an unserer Gesellschaftsform?
Es ist bei Weitem nicht alles schlecht, aber Vieles könnte besser sein, wenn wir weniger komplex und wieder mehr einfach sein würden. In dem ständigen Streben nach schneller, weiter, höher sehne ich mich nach einer Umkehr: Zurück zu den Wurzeln und mit den Händen mal wieder die Erde berühren!
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Hallo Johanna & Christof!
Vielen Dank für diesen Artikel. Er spricht aus, was ich schon lange fühle. Ich habe schon auf Johannas Seite gestöbert und werde mir das Buch vielleicht kaufen. Liebe Grüße Eure Lucia