„Ich habe Zeit, wie denn jedermann Zeit hat, wenn er nur will.“ (Seneca)
In einer Welt des Überflusses, aber nur selten im Flow
Wir haben keine Zeit, aber zum Shoppen schon. Wir sind immer unterwegs und kommen doch nie richtig an. Wir wollen rund um die Uhr unterhalten werden, aber unterhalten uns nicht mehr richtig. Wir sind viel beschäftigt und oft geschafft. Wir meiden Augenkontakt, aber schauen selbst beim Gehen auf Bildschirme. Wir erheben die Schnelligkeit zu einer Tugend und fürchten Langsamkeit und Stillstand. Wir leben in einer Welt des Überflusses, aber befinden uns nur selten im Flow.
Man muss schon genau hinschauen, um die ausfindig zu machen, die den Kult um den hanebüchenen Konsum und der ständigen Betriebsamkeit noch nicht oder nicht mehr pflegen. Es sind die Kinder und die Alten, die Müßiggänger und Nonkonformisten, unsere Haustiere und die Geschöpfe in der Natur. Anstelle uns von ihnen inspirieren zu lassen, belächeln, ignorieren und bekämpfen wir sie.
Wir sind selbst für unser Handeln verantwortlich
Insgeheim wissen wir, dass es so nicht weiter gehen kann. Es droht der Kollaps – auf persönlicher, sozialer, ökonomischer und ökologischer Ebene.
Die Schuldigen stehen schon am Pranger: Kapitalismus, Medien und Digitalisierung können in ihren heutigen Ausprägungen zu Zeitmangel, Gehetztheit, Reizüberflutung, Stress, Konsumpf und sogar Depressionen und Burnout führen.
Das mag stimmen. Aber sind wir nicht selbst für unser Handeln verantwortlich? Wir können uns gegen den Kauf des Zweitwagens, der achten Jeans und des dreiundzwanzigsten Kaffeebechers entscheiden. Wir müssen nicht bis zum Ende unserer Tag in dem ausbeuterischen Job bleiben. Und wir können jederzeit den Ausschalter des Fernsehers, des Laptops und des Smartphones drücken.
Sag ja zum Nein
Nein sagen ist aber nicht so einfach. Unser Statusdenken ist tief verwurzelt. Gewohnheiten ändert man nicht mal eben. Konsum und Geschäftigkeit füllen oberflächlich betrachtet das Leben (geben ihm aber noch lange keinen Sinn). Auch politisch und ökonomisch ist das gewollt. Die Parole Wachstum ist zu mächtig, als dass sie in Frage gestellt wird. Sogar die Klimaschutzziele versucht Deutschland lieber durch Effizienzsteigerung als durch Reduktion zu erreichen.
Wenn wir innehalten und unser Leben betrachten, erkennen wir, dass der Zeitmangel und die Gehetztheit von uns selbst verursacht sind.
Besitz bindet Zeit, Minimalismus macht Zeit frei
Minimalismus ist der bewährte Weg, um Überflüssiges aus dem Leben zu werfen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es wird also nicht versucht, einer Vielzahl an Dingen, Menschen und Aufgaben gerecht zu werden. Man beschränkt sich auf weniger Optionen, um sich diesen mit genügend Zeit, Aufmerksamkeit und Liebe zu widmen.
Minimalisten sind mehr Verbraucher als Konsumenten. Sie kaufen und besitzen nur das, was sie wirklich (ver)brauchen. Das ist der wichtigste Schlüssel gegen Zeitmangel und Gehetztheit. Besitz bindet unglaublich viel Zeit. Die 10.000 Dinge, die jeder Bundesbürger durchschnittlich hortet, müssen recherchiert, getestet, ausgesucht, auf der Arbeit verdient, bezahlt, heimgebracht, aufgehoben, verwendet, gepflegt, entstaubt, repariert, ersetzt usw. werden. “Souverän ist nicht wer wenig hat, sondern wer wenig braucht”, sagt der Wachstumskritiker Niko Paech.
Rückkehr zum menschlichen Maß
Man kann sich der Komplexität des Alltags nicht komplett entsagen. Aber man kann freiwillig zu einem menschlichen, also übersichtlichen Maß zurückkehren. Jeder muss für sich herausfinden, wie viel genug ist und wo zu viel beginnt. Es gibt Minimalisten, die mit weniger als 100 Dingen auskommen. Ich habe schon in meiner Küche mehr als 100, weil ich gerne und oft koche.
Materielle Dinge sollen dazu dienen, unsere essentiellen Bedürfnisse zu befriedigen und unser Leben zu erleichtern.
Luxus anno 2018: Zeit, Leichtigkeit und Spontanität
Den Sinn des Lebens und echtes Glück erfahren wir woanders: Durch intakte Beziehungen in der Partnerschaft, in der Familie und zu Freunden, durch soziales Engagement, durch finanzielle und persönliche Freiheit, durch Gesundheit und durch das, wofür wir brennen.
Für diese „weichen“ Faktoren ist wenig Besitz notwendig. Wir brauchen dafür Zeit und Aufmerksamkeit. Minimalismus hilft dabei, wieder selbst über unsere Zeit zu bestimmen.
Dann können wir es uns sogar leisten, manchmal ohne Plan und Ziel in den Tag hinein zu leben. Das führt zu mehr Leichtigkeit und gibt Platz für Spontanität. Welch Luxus! In der heutigen Ära des Zeitmangels und der Gehetztheit zählen Zeithaben, Leichtigkeit und Spontanität zu den wertvollsten Gütern.
Hallo,
guter Artikel, aber was kann „finanzielle Freiheit“ sein?
LG