
Vorbemerkung: Du findest diesen Artikel in einer überarbeiteten Version auch in meinem Ratgeber „Das Minimalismus-Projekt – 52 praktische Ideen für weniger Haben und mehr Sein“, der als Buch und E-Book bei Gräfe und Unzer (GU) erschienen ist.
Time is money – Money is time – Stuff is time
Mehr Geld, mehr Kram, mehr Termine im Kalender, mehr Hamster im Rad. Unsere ach so moderne Welt ist auf Steigerung ausgelegt. Nur freie Zeit und Freizeit gibt es kaum mehr.
Wir übersehen oft, dass wir jeden Gegenstand nicht nur mit Geld, sondern vor allem mit wertvoller Lebenszeit bezahlen (seit Du diesen Artikel liest, ist eine halbe Minute vergangen). „Time is money.“ Aber auch: „Money is time.“ Und eben: „Stuff is time.“
Ist Dir ein 65-Zoll-4K-Fernseher einen Monat Arbeit wert?
Sofern Du nicht geerbt oder eine Bank ausgeraubt hast (und dabei nicht erwischt wurdest), bezahlst Du jeden neuen Gegenstand mit dem Geld, das Du verdient hast.
Um den wahre Wert einer Ware zu erkennen, empfehle ich, vor jedem Kauf auszurechnen, wie lange Du dafür zu arbeiten hast. Für die Berechnung musst Du Dein Nettogehalt pro Stunde, Tag, Monat und Jahr kennen. Wenn Du Dir die Beträge nicht merken kannst, schreibe sie auf ein Zettelchen und stecke diesen in Deinen Geldbeutel.
Angenommen Du beziehst das durchschnittliche Monatsnettogehalt in Deutschland 2018 in Höhe von 1.945 Euro, arbeitest 18 Tage im Monat und hast eine 40-Stunden-Woche. Dann verdienst Du pro Stunde 13,51 Euro und pro Jahr 23.340 Euro. Für einen 3 Euro teuren Cappuccino müsstest Du also 13 Minuten arbeiten, für eine 60 Euro teure Levi’s 501 4,5 Stunden, für einen 2.000 Euro teuren 65-Zoll-4K-Fernseher einen Monat, für einen 25.000 Euro teuren VW Golf 13 Monate und für ein 300.000 Euro teures Einfamilienhaus 13 Jahre.
Dieses Vorgehen reduziert Spontan- und Fehlkäufe auf ein Minimum. Du wirst Dir solche Frage stellen: Ist mir der 65-Zoll-4K-Fernseher wirklich so viel Arbeits- und Lebenszeit wert? Bereichert und verbessert er mein Leben? Kann ich ihn secondhand erstehen? Tut es das alte Gerät nicht noch genauso? Wollte ich nicht eigentlich mal einen Monat ohne Fernseher leben?
Auch die versteckten Folgekosten rauben Lebenszeit
In Deine Entscheidung für oder gegen einen Kauf, solltest Du miteinbeziehen, dass der Gegenstand wahrscheinlich Folgekosten verursachen wird. Diese kannst Du Dir wieder als Stunden auf der Arbeit – oder wenn Du auf den Gegenstand „verzichtest“ – als freie Lebenszeit vorstellen.
Jedes noch so kleine elektrische Gerät verbraucht Strom. Ein Auto muss versichert, versteuert, betankt oder aufgeladen, geparkt, verschönert, gewaschen, gewartet und repariert werden. Selbst Gegenstände wie eine Levi’s 501 ziehen Kosten nach sich, weil die meisten von uns Gebirge an Kram besitzen, die in Kisten, Regalen, Kommoden, Schränken, Wohnungen, Häusern, Kellern, Garagen und Selfstorages aufbewahrt werden müssen.
Jeder Gegenstand buhlt um Deine Aufmerksamkeit
Hinzukommt, dass jeder neuer Gegenstand per se Zeit frisst, denn er will verwendet, aufbewahrt, archiviert, gewartet, gepflegt, entstaubt, upgedated oder was auch immer werden. Mit Wertschätzung ist das kaum noch möglich, wenn schon so viele andere Gegenstände um Aufmerksamkeit buhlen.
Wachstumskritiker Niko Paech sagt: „Wir sind doch längst überfordert und erschöpft. Eine Studie hat ergeben, dass ein Bundesbürger durchschnittlich 10.000 Dinge besitzt. Dienstleistungen kommen noch hinzu. Wie sollen wir das verarbeiten, wenn einerseits jedes Ding seine Zeit verlangt, der Tag aber andererseits nur 24 Stunden hat?“
Der Ausweg aus dem Kram-Arbeit-Zeit-Dilemma: Lebe einfach einfach
Stell Dir vor, wie günstig Du wohnen würdest und wie viel Lebenszeit Du zur Verfügung hättest, wenn Dein gesamter Besitz in einen Rucksack und eine Tasche passen würde. Manche digitale Nomaden und „extreme“ Minimalisten leben so. Ich will damit nicht sagen, dass Du dem nacheifern musst. Ich lebe auch nicht so. Aber ich möchte veranschaulichen, dass Kram viel Zeit bindet.
(D)eine Ausweg aus dem Kram-Arbeit-Zeit-Dilemma liegt nahe: Lebe einfach einfach. Finde das für Dich passende Maß. Kaufe nur Gegenstände, die Du Dir leisten kannst und willst. Reduziere Deinen Besitz, bis Du nur noch Gegenstände hast, die Dein Leben erleichtern oder bereichern.
Wenn Dir dann danach ist, kannst Du Deine Arbeitszeit reduzieren, ein Sabbatical einlegen, eine Selbstständigkeit riskieren oder früher in Rente gehen. „Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet“, lautet eines der fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen.
Auch wenn Du Dein Arbeitspensum beibehältst, wird sich vieles zum Guten wenden – weil Du nun den wahren Wert der Gegenstände kennst, weniger konsumierst und mehr Lebenszeit mit Deinen Leidenschaften und Lieben verbringst.
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Hallo Christoph,
da hast du wieder einen sehr feinen, weil thematisch wichtigen, auf den Punkt gebrachten und schön geschriebenen Artikel verfasst.
Den Vorschlag mit dem Zettelchen im Geldbeutel finde ich besonders gut. Werde ich machen. Bisher kannte ich noch nicht mal meinen Stundenlohn. Es hat mich etwas geschockt wie lange ich für manchen Konsum-Quatsch auf „rumhocken“ muss.
Grundsätzlich bin ich schon auf dem richtigen Weg. Ich habe meinen Konsum reduziert, auch durch die vielen Tips auf deiner Seite hier. Danke dafür!
Viele Grüße aus dem Norden
Steff