
Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Johanna Wagner. Ihr drittes Buch „Verlauf dich nicht“ ist ein „Wegweiser für ein einfaches und bewusstes Leben“.
Manchmal tue und mache ich den ganzen Tag und kann am Abend kein Ergebnis erkennen. Kann nichts von meiner To-Do-Liste streichen, muss sie dafür um Punkte ergänzen. Müde vom Tun, unruhig im Wissen um das noch zu Erledigende und unzufrieden wegen der Ergebnislosigkeit greift meine Hand abends beiläufig zu Smartphone oder Fernbedienung. Doch eigentlich möchte ich nichts anschalten, sondern den Kopf abschalten und zur Ruhe kommen. Wenn das nicht mal nach Feierabend möglich ist, wann dann?
Ich versacke, bin endlich zeitlos und kopflos – zumindest gedankenlos gedankenleer – und finde deshalb den Absprung nicht. Das Bett sieht mich viel zu spät und der smarte Wecker reißt mich am nächsten Morgen aus der Tiefschlafphase, während ich die Snooze-Taste für die beste Erfindung halte. Doch hänge ich von nun an den ganzen Tag um jene Minuten hinterher. Ich bin nicht in meiner Mitte. Dafür ständig hektisch und zu spät, überall und nirgendwo, mittendrin und doch nicht dabei. Und obwohl mein Tag schon wieder den Titel Aktionismus trägt, komme ich am Abend nach Hause und habe das Gefühl, den ganzen Tag an der Zielscheibe vorbei geworfen zu haben. Ich lag daneben. Ich stand neben mir, habe die Mitte nicht getroffen. Und während der Tag in der begrenzten Ewigkeit zerbröckelt, beschließe ich, dass es diese Tage in meinem Leben nicht mehr geben soll.
Ich erkenne, wie weit ich von meiner Mitte entfernt bin, manchmal sogar aus meiner Silhouette falle, und dass mir alles über den Kopf zu wachsen scheint, obwohl nichts wächst. Nicht, weil ich nichts tue, sondern weil ich nicht das Richtige tue. Nicht, weil ich zu wenig Zeit habe, sondern weil ich nicht die richtigen Prioritäten setze. Nicht, weil ich keine Energie habe, sondern weil sie verpufft wie die eines im Kreis fahrenden Autos.
Wer weiß, wo er hinwill, kann ankommen
Planlos sein ist anstrengend und kräfteraubend und lässt uns mit einem Gefühl von Unzufriedenheit und Leere zurück. Es ist ein massiver Stressor, Auslöser von Stress, da wir uns unentwegt abmühen, ohne dass sich ein Gefühl von Ankommen einstellt. Für einen Richtungslosen ist jede Entscheidung entweder schwierig oder banal. Es ist wie Segeln ohne Kompass, wie ein ewiges Unterwegssein ohne Landkarte, manchmal sogar noch mehr: Es ist das Hinterfragen, warum man unterwegs ist und wofür man all die Schritte geht.
Wenn wir keinen Plan haben und uns nicht für etwas auf den Weg machen, für das wir brennen, geht uns der Brennstoff schnell aus. Ohne Ziel und ohne Freude verpufft die Energie, weil in uns kein Gefühl von Sinnhaftigkeit entsteht. Weil wir zwar in Bewegung waren, aber unsere Schritte nicht in die richtige Richtung geführt haben.
Wir sollten also wissen, wo wir am Tages-, Jahres- oder Lebensende ankommen wollen. Was unsere Werte sind, was für uns von Bedeutung ist und was ohne Belang. Uns dann von der Opfer- in die Schöpferrolle bewegen und unser Leben aufräumen. Es an die Hand nehmen und in die Hand nehmen: Klarheit schaffen, die Sicht und den Weg freiräumen, losgehen und für uns einstehen. Denn nur, wenn wir ein Ziel in unser Navigationsgerät eingeben, können wir es erreichen. Dann können wir einen Plan verfolgen und ankommen. Nicht erst am großen endgültigen Ziel, sondern auf der Etappe eines jeden Tagesziels.
Warum die kleinen Ziele die Bausteine für das große Ziel sind
Ein Ziel zu verfolgen und einen Plan zu haben, bringen Klarheit, Ordnung und Struktur. Im Großen wie im Kleinen, vom einzelnen Tag bis zur großen Vision. Denn jeder Tag bildet einen Baustein für das große Ganze. Das heißt nicht, dass der Weg anstrengungslos oder irrtumsfrei sein wird, aber er wird erkennbarer und sinnhafter. Wenn wir wissen, wohin wir wollen, können wir unseren Fokus bestimmen, Kräfte gezielt einsetzen und Zufriedenheit erfahren. Wir sind die Architekten unseres Lebens und ohne Plan planlos. Dabei wohnt in uns allen die Kraft, unseren persönlichen Schatz im Außen zu verwirklichen.
Vier Ideen für mehr Struktur
1. Wer weiß, wo er hinwill, kann Prioritäten setzen
Wenn Du weißt, wo Du hinwillst, weißt Du, was Du brauchst, um dort anzukommen. Welche Dinge, Termine, Kontakte, Eigenschaften und Tätigkeiten wichtig sind. Und auch, welche in diesem Augenblick keine Relevanz haben.
Es geht nicht darum, Dein ganzes Leben zu optimieren oder zu systematisieren. Es geht darum, den Herzensangelegenheiten mehr Herz und mehr Gelegenheiten zu schenken, und die wichtigen, dringlichen oder manchmal unabdinglichen Dinge effizienter erledigen zu können. Für mehr Zufriedenheit und Selbstbestimmung.
Notiere dafür an jedem Abend sechs Tätigkeiten, die Du am folgenden Tag erledigen möchtest. Bringe diese am Morgen in eine Reihenfolge und beginne mit der ersten. Bleibe mit Deinem Fokus bei Deiner gewählten Priorität, bis Du sie beendet hast. Beginne erst dann mit der zweiten Aufgabe. Am Abend zerfällt die Liste dieses Tages und Du schreibst sechs neue Punkte für den kommenden Tag auf.
Diese Punkte sind das Gerüst für Dein Tageswerk, der Wegweiser für die Schritte an diesem einen Tag. Wenn Du von nun an an jedem Tag „nur“ die erste Aufgabe beendest, wirst Du mit diesem Werkzeug sehr wahrscheinlich viel mehr Schritte in die richtige Richtung auf Deinem Lebensweg zurücklegen als mit ungeordneten Ideen im Kopf.
2. Wer Prioritäten setzt, kann Nein sagen
Wer weiß, was er an diesem Tag erleben, erledigen oder voranbringen möchte, kann bei auftauchenden Ablenkungen und Möglichkeiten achtsam entscheiden, ob er sie wahrnehmen möchte oder nicht. Man hängt in jedem Fall nicht in der Luft und zappelt hektisch von einem zum nächsten, nur, um nichts zu verpassen, um sich zu betäuben oder beschäftigt zu sein, weil man statt einem Plan ein Gefühl von Mangel hat. Dein Fahrplan zeigt Dir Deinen aktuellen Standort und Dein Ziel. So kannst Du selbstbestimmt entscheiden, welche Angebote Du annimmst, später wahrnimmst oder absagst. Ein Nein ist plötzlich keine unangenehme Zurückweisung mehr, sondern ein bewusstes Ja zu etwas.
3. Wer Nein sagen kann, kann auch Ja sagen
Das Leben fordert täglich unzählige Entscheidungen von uns. In der Wahl unserer Entscheidungen liegt unsere Schaffenskraft. Wenn Du weißt, wo Du hinwillst, kannst Du an die Möglichkeiten des Tages Deinen inneren Kompass anlegen und bewusst entscheiden. Das gleicht dem Gefühl von hoher Geschwindigkeit auf einer freien Autobahn: Es ist wie den Turbo zu zünden und die bis dato als Last empfundene Schnelligkeit und Reizüberflutung unserer Zeit plötzlich beherrschen und kontrollieren zu können. Du musst nun nicht mehr ständig nach links oder rechts schauen, überall abbiegen, um keine Ausfahrt zu verpassen, Dich selbst ausbremsen oder Dein Tempo an andere Fahrzeuge anpassen. Wenn Du weißt, wo Du hinwillst, spürst Du, wozu Du Ja und wozu Du Nein sagen solltest. Nimm das Steuerrad in beide Hände, gib Vollgas und genieße das Unterwegssein, die Pausen und das Ankommen.
4. Wer sich entschieden hat, braucht Zeit und Fokus und Fokuszeit
Wir brauchen Zeit, um lästige Dinge im Alltag abzuhaken, neue Ideen umzusetzen und unsere größten Träume zum Leben zu erwecken. Prioritäten und bewusste Entscheidungen räumen Dir Zeit ein und schalten Zeiträuber aus. Oft kommen wir uns jedoch selbst in die Quere, denn die größten Ablenkungen stecken in unserem Kopf: Unsere Gedanken, die alles hinterfragen; unsere Muster, die uns in den alten Bahnen halten wollen; unsere Selbstdisziplin, die so gerne die Bequemlichkeit herausfordert.
Verbanne Zeit- und Energieräuber und überliste die magnetisierende Kraft der Komfortzone. Komm ins Handeln und beschenke Dich mit Fokuszeit, Ritualen und Struktur: Schalte Dein Smartphone öfter aus, bereite am Abend den nächsten Morgen vor, gehe früher zu Bett und stehe morgens früher auf. Entwickle eine Morgenroutine, die Dich in Deine Mitte bringt. Widme Dich Deinem Herzensprojekt an jedem Tag für dreißig Minuten oder räume nur zehn Minuten lang auf. Ordne Dein Leben. Tue es regelmäßig. Tue es, ohne zu hinterfragen. Tue es für Dich. So kommst Du raus aus dem Hamsterrad und rein in Deinen Lebens-Flow.
Sobald wir die Aufmerksamkeit nach innen lenken, beginnt die Kunst, das Richtige zu tun
Weil die moderne Welt voller verlockender Angebote, faszinierender Möglichkeiten und nie endender Verpflichtungen ist, passiert es leicht, von unseren Vorhaben und unserem Weg abzukommen. Überall blinkt es, überall winkt es, und während tausende Ablenkungen uns einladen, wissen wir vielleicht nicht mehr, wo wir aufladen. Nach außen orientiert und vom Aktionismus regiert, können wir uns schnell im Tun und Machen verlieren. Sich in diesem Überangebot nicht zu verlaufen, sondern auf sich selbst zu achten und den Weg nach innen zu finden, ist eine Kunst.
Wenn wir aber uns unserer Selbst bewusst werden, können wir mit weniger Tun mehr erreichen. Dann wissen wir, was wir wollen, können nach unseren Werten, nach unserer Wichtigkeit und Dringlichkeit priorisieren, entsprechende Entscheidungen treffen und uns fokussieren. Dann zerteilen wir uns nicht mehr in alle Richtungen und werden vom Überangebot nicht länger überrollt. Wir kommen raus aus dem ermüdenden Machen von allerlei Sachen und endlich bei uns selber an.
Johanna Wagner hat auf Einfach bewusst auch die Gastartikel Minimalismus im Kopf, Wir sind doch nie zufrieden und Zurück zu den Wurzeln und mit den Händen mal wieder die Erde berühren veröffentlicht.
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Danke für diese Überlegungen, vor allem zu der eigenen Mitte sowie dem Nein-Sagen, um Ja sagen zu können.
In meinen 40 er Jahren war das genau mein Problem; ich hätte manchmal ausrasten können. Nur die Freundlichkeit der Menschen, mit denen ich zu tun hatte, motivierte mich.
Inzwischen mit 60 nehme ich mehr Abstand. Damit ist allerdings Abschied verbunden und die Suche nach wirklichen Lebensinhalten.
Aber wie das die heute 40jährigen realisieren könnten, ist mir immer noch schleierhaft.