Zurück zu den Wurzeln und mit den Händen mal wieder die Erde berühren

2. Mai 2014 - von Johanna Katzera - 26 Kommentare

Zurück zu den Wurzeln (Foto: Johanna Wagner, 2013)

Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Johanna Wagner. Der Text ist ihrem Buch Schlaflos in der Regenzeit entnommen.

Manchmal glaube ich, eine große Idee wolle die Menschen gezielt benebeln und beschäftigen, separieren und verwirren. Jene Idee lenkt den Markt, die Konzerne, die Politik und schließlich die angeblich freien Bürger, denen am Ende doch keine andere Wahl bleibt, als zu konsumieren, was angeboten wird und sich den Errungenschaften der Technik hinzugeben, weil das moderne Leben es verlangt. Wie eine heimtückische Seuche verbreitet sich der westliche Lebensstil über den Globus und entzweit von unserer wahren Natur. Nur wenige schrecken zurück, die meisten möchten infiziert werden. Das freie, moderne Leben wirkt magnetisch. Es lockt mit Vereinfachung, aber endet in Problemen.

Und während viele von dem fortschrittlichen Leben träumen, ist es für uns ganz gewöhnlich. Wir leben, denken, lernen, arbeiten, konsumieren, essen, erkranken und sterben, wie wir zu leben, denken, lernen, arbeiten, konsumieren, essen, erkranken und sterben lernten und gewöhnen uns im Laufe der Zeit an die seltsamsten Dinge.

Doch wenn ich alles Erlernte ausradiere und die Gegenwart als Fremde von außen betrachte, verstehe ich die Welt nicht mehr:

Wir hängen Menschen an Schläuche, setzen ihnen künstliche Gelenke ein, erweitern ihre Gefäße und bringen ihr Herz künstlich zum Schlagen. Wir halten die Körperfunktionen am Leben, während die Seele vielleicht schon auf einem ganz anderem Weg ist. Doch in unserer Welt zählt nur das Sichtbare und gesund ist, was funktioniert.

Wir durchleuchten unsere Körper, aber nicht den Sinn des Lebens.

Wir dürfen die Menschen nicht sterben lassen, aber wir dürfen sie am Leben halten. Dürfen wir dann nicht doch über ihren Tod richten, indem wir über ihr Leben richten?

Wir schauen den ganzen Tag in Displays und immer weniger in Gesichter. Wir haben die beste Unterhaltung, aber führen seltener Gespräche – dafür haben wir keine Zeit, obwohl alles immer schneller geht.

Wir beschleunigen, aber schreiten rückwärts.

Wir haben es leichter, aber werden schwerer.

Wir sind überernährt, aber unterversorgt.

Wir haben es bequemer, aber werden krank.

Wir haben Wohlstand, aber leiden an Wohlstandskrankheiten.

Wir haben die beste Medizin, aber die meisten Kranken.

Wir sind das Werkzeug unseres eigenen Erfindungsgeistes geworden – die Welt wird immer komplexer, obwohl das Leben einfacher werden soll. Das ist der Widerspruch, dem niemand widerspricht.

Weil wir günstiges Fleisch wollen, produzieren wir Tiere wie Materie und bauen Futterpflanzen an, obwohl Menschen hungern.

Wir sind uns selbst am Nächsten und doch oft meilenweit entfernt. Wir sind zu beschäftigt und ständig unterwegs. Wir können zu jeder Zeit an jedem Ort sein, sind aber nur noch selten in der Gegenwart. Die Welt wird immer kleiner, wir können sie sogar nach Hause holen. Alles ist möglich – WIR SIND FREI! Doch die Freiheit macht uns zu ihren Gefangenen. Wenn alles möglich ist, hat man tausend Möglichkeiten und immer zu wenig Zeit. Wir sind die Sklaven unserer Zeit: Von unseren Familien getrennt und mit der Arbeit verheiratet, weil das moderne Leben flexible Menschen verlangt.

Unsere Bestimmung wird von der Gesellschaft bestimmt – wir sind nicht mehr für etwas berufen, wir erlernen einen Beruf. Wir werden immer älter, aber dürfen kaum noch Kind sein. Wir lernen immer früher zu denken, aber können nicht mehr nicht denken. Unser Kopf analysiert und denkt, bis er ausgebrannt ist, weil der Motor keine Energie mehr hat. Wo tanken wir auf?

Wir zerlegen die Welt unter dem Mikroskop und verlernen das Staunen. Nicht alles ist mit dem Kopf begreifbar, aber das begreift der Fortschritt nicht. Wir haben die ganze Welt analysiert, uns sogar eine Parallelwelt erschaffen, doch offline sind wir orientierungslos geworden. Wir fühlen uns allmächtig – dabei verlieren wir die Kontrolle. Nur wenige glauben an Gott, die meisten glauben an sich selbst. Doch wenn wir uns selbst nicht kennen, an wen glauben wir dann?

Wir ergötzen uns an der Materie und am Fortschritt, die uns die Freiheit bringen, die uns krank macht. Aber dafür gibt es ja die weißen Pillen, die Symptome lindern, aber die Ursachen verkennen. Wir wollen besitzen, aber werden von allem besessen. Wir verwurzeln uns in der Erde, aber zerstören sie. Doch wir haben für alles eine Lösung. Vor allem für die Probleme, die wir ohne den Fortschritt nicht hätten. Nur die Bedienungsanleitung für das eigene Leben haben wir irgendwo im Überfluss verloren.

Wir wollen immer mehr und übersehen was wir haben. Wir suchen das Glück um uns herum und spüren nicht, dass wir es in uns tragen. Wir sind die Unterzahl, aber verbrauchen die meisten Ressourcen. Wir müssen nicht mehr frieren – wir haben sogar die Heizung in der Welt angemacht. Wir haben die fortschrittlichsten Maschinen, aber die eigenen Hände vergessen. Wir konsumieren Produkte aus anderen Kontinenten, aber können keinen eigenen Garten bestellen – nicht einmal online. Wir sind frei, aber abhängiger als je zuvor. Und obwohl wir wählen dürfen, beklagen wir, keine Wahl zu haben.

Wir – ist der westliche Lebensstil.
Wir – ist der hohe Lebensstandard.
Wir – ist das Vorbild für viele Menschen auf der ganzen Welt, die bisher in ihren einzigartigen Kulturen zu Hause waren. Allmählich verschwinden sie in einer seichten Monotonie.

Sind das Klagelieder auf hohem Niveau oder berechtigte Zweifel an unserer Gesellschaftsform?

Es ist bei Weitem nicht alles schlecht, aber Vieles könnte besser sein, wenn wir weniger komplex und wieder mehr einfach sein würden. In dem ständigen Streben nach schneller, weiter, höher sehne ich mich nach einer Umkehr: Zurück zu den Wurzeln und mit den Händen mal wieder die Erde berühren!

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26 Kommentare für “Zurück zu den Wurzeln und mit den Händen mal wieder die Erde berühren”

  1. Hallo Johanna & Christof!
    Vielen Dank für diesen Artikel. Er spricht aus, was ich schon lange fühle. Ich habe schon auf Johannas Seite gestöbert und werde mir das Buch vielleicht kaufen. Liebe Grüße Eure Lucia

  2. Hallo Johanna, hallo Christof,
    danke für diese Worte! Sie haben mich tief berührt und in meiner Denkweise unwahrscheinlich bestärkt. Der Text hat mich neugierig gemacht und das Buch werde ich mir auf jeden Fall holen.

    DANKE!

    Liebe Grüsse
    Andy

  3. Liebe Johanna,
    vielen Dank dass du diesen Artikel veröffentlich hast. Ich habe in letzter Zeit wenig Texte gelesen,die so wahrhaftig und grundehrlich waren. Sie sind schmerzliche Realität,die einen mit dem Gefühl der Ratlosigkeit,Trauer und Wut zurücklassen. Aber auch mit dem Gedanken,dass wir selbst in der Hand haben,was aus unserem Leben,unserer Umwelt und unserem Planeten wird.
    Ich bin sehr gespannt auf deine Lektüre & freue mich schon darauf es zu lesen.

    Auch dir Christof ein herzliches Danke,dass du Johanna die Möglichkeit gegeben hast diese Plattform zu nutzen.

    Ein schönes Wochenende Euch :)

  4. Vielen Dank für eure Resonanz auf meine Zeilen. Dass es ähnlich fühlende Menschen gibt ist inspirierend und macht Mut, meine Gedanken weiterhin zu teilen.
    Ich freue mich über die schon eingegangenen Buchbestellungen und wünsche euch viel Lesefreude :)

  5. Hinneigung (Konsum) – Abneigung (Konsumverzicht) – beides ist Blendung und führt nicht zum inneren Frieden
    Gruß
    Christian

    1. Sehe ich etwas anders, Christian. Für mich trägt der Konsumverzicht zu meinem inneren Frieden bei. Natürlich bedarf es noch mehr, um glücklich zu sein. Aber ein Mosaikstein ist der Konsumverzicht allemal, ein recht großer sogar, denn die Last, die von einem fällt, wenn man sich gegen den Kaufwahnsinn wehrt, wird von vielen als groß empfunden.

      1. Konsumverzicht erleichtert auf jeden Fall ungemein.
        Seitdem ich meine Wohnung komplett entrümpelt habe und beim einkaufen überlege, ob ich da wirklich brauche, kaufe ich kaum noch was.
        Ich finds eher traurig, was meine Mitmenschen kaufen, weil sie denken, sie brauchen es…

    2. Christian,
      du hast recht, ob Konsum oder Konsumverzicht, wenn diese zum „Ideal“ erhoben werden, so führen sie uns weg von uns selbst. Denn im Außen werden wir unseren Inneren Frieden nie finden.

      Andererseits weiß ich aus eigener Erfahrung, dass maßvoller Konsum- oder Reizverzicht (z.B. drei Tage Stille-Meditation, ohne Sprechen, ohne Handy und PC, bescheidenem Essen) sehr viel zum Inneren Frieden beitragen kann.

      Zugleich weiß ich auch, dass bewusster Konsum (die tolle Laufuhr, an der man lange Freude hat oder die nach Feng-Shui eingerichtete, großzügig bemessene Wohnung, in der man sich wohlfühlt), vielleicht nicht direkt zum Inneren Frieden beiträgt, aber doch Freude bereiten und zum Inneren Wohlbefinden beitragen kann.

  6. „Schlaflos in der Regenzeit“ ist eine außergewöhnliche Reiseerzählung, weil die weit gereiste Autorin den Lesern das Fremde nahebringt. Gefühlsbetont und gesellschaftskritisch gewährt Johanna Wagner in ihrem Erstlingswerk Einblicke in das Dasein abseits der Touristenpfade sowie in ihre Gedankenwelt. Sie setzt sich nachdenklich und kritisch mit dem westlichen Lebensstil des Höher, Schneller und Weiter auseinander.
    „Schlaflos in der Regenzeit“ ist ein Aufruf zu Respekt vor dem einfachen Menschen, ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf ein Dasein im Einklang mit der Natur und ist deshalb eine wichtige Lektüre für alle, die mit offenen Augen durch die Welt gehen, denn es spricht gesellschaftskritische Menschen an, die sich nach einem natürlichen und bewussten Leben sehnen.
    „Schlaflos-in-der-Regenzeit, das geschichtliche, politische, wirtschaftliche und soziologische Informationen enthält, ist aber auch ein Muss für die Leser, die ihre Erinnerungen an Südamerika auffrischen oder zum ersten Mal in die südamerikanische Kultur eintauchen wollen.
    Ich wünsche der Autorin, die mit Kopf, Herz und Hand die andere Seite der Erde zu erfassen sucht, dass „Schlaflos in der Regenzeit“ durch Weiterempfehlung der Leser zu einem „Selbstrenner“ wird, der keinen Verlag benötigt und dennoch eine große Auflage erreicht.

    1. Alwin, gebe zu, dass Du mit Johanna verwandt bist und der Diskuswerfer bist, dem ich 1984 bei den Olympischen Sommerspielen in Los Angeles im Fernsehen zugeschaut habe ;-) Deinem Review zu „Schlaflos in der Regenzeit“ kann ich so oder so nichts hinzufügen.

  7. „Wir sind das Werkzeug unseres eigenen Erfindungsgeistes geworden – die Welt wird immer komplexer, obwohl das Leben einfacher werden soll. Das ist der Widerspruch, dem niemand widerspricht.“
    Der Buddha hat gesagt:
    Wir sind Kinder unseres Wirkens , Eigner unseres Wirkens, das was wir gewirkt haben, werden wir ernten.“ Auch was Christian geschrieben hat über Hinneigung-Abneigung -Blendung ist gut, und die 3 sind zu überwinden.

  8. vielen Dank für die Zeilen, erst heute habe ich sie entdeckt und bin ganz be- und gerührt, wie Menschen so treffend formulieren können. Mich erschreckt, zu beobachten, dass auch bei meinen Kindern Konsumieren eine, nein DIE Freizeitgestaltung Nummer 1 ist.
    Ich werde die Zeilen in meinem Umfeld weiter reichen und freue mich schon jetzt auf Diskussionen. Dankeschön! Und allen einen schönen Kindertag!

  9. Vielen Dank für diesen wunderbaren Buchtipp. Klingt sehr ansprechend. Ich werde mir das Buch bestellen und habe gleich auch ein Geschenk für einen Freund, der vor einigen Jahren zu Fuß mit nur einem Rucksack als Gepäck durch Bolivien und Kolumbien gelaufen ist.
    Liebe Grüße,
    Martina

    1. Liebe Martina,

      vielen Dank auch auf diesem Weg für dein Interesse und deine Bestellung. Ich habe das Buch heute zur Post gebracht :)

      Wie schön, dass der Beitrag auch noch Monate nach der Veröffentlichung gelesen wird!

  10. Diese Worte beschreiben exakt das wie ich unsere Gesellschaft beschreiben würde… Diese Formulierungen wären mir jedoch so nie eingefallen… Finde diesen Buchausschnitt exzellent, so wie den ganzen Blog!

    thx
    lg
    Bernhard

  11. Hallo Johanna,
    vielen Dank für diesen phantastischen Text; kann mich mit jedem Gedankengang identifizieren und macht Lust auf mehr…
    Danke an Christoph, dass Du anderen Menschen eine Plattform bietest, eigene Texte zu veröffentlichen und uns alle teilhaben läßt.
    LG Sol

  12. Liebe Johanna,

    was für ein toller Text! Das spricht mir aus der Seele… so schön ausgedrückt. Habe eben auch die Kommentare auf Deiner Seite dazu gelesen und nun richtig Lust bekommen das Buch zu lesen. Auch wenn Reisen und Reiseberichte nicht so mein Thema sind, klingt es so interessant, dass ich es sicher irgendwann lesen muss! Du schreibst sehr gefühlvoll und treffend, das gefällt mir unglaublich gut…

    Liebe Grüsse, Franziska

    1. Hallo Franziska,

      vielen lieben Dank für dein Feedback! Ich freue mich, dass dir mein Text und meine Art zu Schreiben gefallen :)

      Liebe Grüße,
      Johanna

  13. hallo!
    Ein extrem beeindruckender text, der die lebenssituation hier bei uns im „westen“ exakt auf den punkt bringt!
    in meinem poesiealbum steht ein spruch:
    am würdigen Alten in Treue halten,
    am kräftigen Neuen sich stärken und freuen.

    ich glaube, man muss viel mehr lernen, zu UNTERSCHEIDEN was das gute Alte und das kraeftige Neue ist. vielleicht würde das der Gesellschaft weiterhelfen.

    1. Ein sehr schöner Ansatz. Klingt so leicht und scheint doch so unglaublich schwer zu verwirklichen. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass es gelingt, wenn man die Prioritäten richtig setzt und „einfach bewusst“ lebt!

      1. hallo johanna!
        ja, das ist bestimmt der erste Schritt!!
        Finde es sehr gut, dass Sie sich so treffende Gedanken machen.
        vieles wird einem, wenn es erst in Worte gefasst ist, und man es liest, so richtig bewusst!
        vielen dank und alles Gute weiterhin!!!!

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