„Flucht ist erlaubt, wenn man Tyrannen flieht.“ (Friedrich Schiller)
„Hast Du Tagesticket Plus nach Forchheim?“, fragt mich ein arabisch aussehender Mann, als ich am Nürnberger Hauptbahnhof auf den RE warte.
„Klar, kannst gerne mitfahren“, antworte ich.
Ein paar Minuten später sitzen wir nebeneinander im Zug. Wir kommen schnell ins Gespräch. Mein Begleiter kann gerade so viel Deutsch, dass eine Kommunikation möglich ist. Er heißt Reza und stammt aus Afghanistan. Ich schätze ihn auf mein Alter.
Ich möchte wissen, ob er als Flüchtling nach Deutschland gekommen ist. Er bejaht und beginnt, seine Geschichte zu erzählen: „Der Taliban hat über 30 meiner Familienmitglieder ermordet. Meine Frau floh mit unseren Kindern vor vier Jahren nach Deutschland.“
„Und Du?“
„Ich wurde monatelang vom Taliban gefoltert. Dann konnte ich entkommen und kam vor drei Jahren als Flüchtling nach Deutschland.“
Die Narbe unterhalb seines Kehlkopfes fällt ins Auge. Reza winkt jedoch ab. Die stamme von einem Luftröhrenschnitt nach einem Unfall. Nachts habe es in seinem Haus Feuer gegeben. Sein ältester Sohn und er lagen nach Rauchvergiftungen zwei Wochen im Koma. Der Sohn kam schnell wieder auf die Beine und geht mittlerweile aufs Gymnasium. Reza befindet sich nach einem Jahr noch immer in ärztlicher Behandlung. „Die Schmerzen werden mich für immer begleiten. Hier unten und hier oben“, sagt er und legt dabei die rechte Hand erst auf seine Lungen und danach auf seinen Kopf.
Die Frage nach seiner Arbeit lässt Rezas Augen leuchten: „Ich bin Automechaniker!“, sagt er, fügt dann enttäuscht hinzu, dass er in Deutschland nicht arbeiten dürfe. Er zieht einen Stapel Papiere aus der Jackentasche hervor. Zugtickets, Behördenbriefe, einen 5-Euro-Schein und ärztliche Atteste. Auf letzteren wird bestätigt, dass er wegen „in der Gefangenschaft in Afghanistan erlittenen Traumata auf unbestimmte Zeit nicht arbeitsfähig ist.“ Leise sagt Reza: „Meine Frau arbeitet, ich kümmere mich um unsere vier Kinder.“ Die Rollenverteilung ist ihm unangenehm, das merkt man. In seinem Ausweis steht das Geburtsjahr 1984. Er wirkt mindestens zehn Jahre älter. Die Papiere steckt er lose zurück in seine Jackentasche.
„Warum hast Du keinen Geldbeutel?“
„Zu teuer.“
Wir erreichen den Bahnhof Forchheim. Reza lädt mich ein, bei ihm zuhause Tee zu trinken.
„Danke, vielleicht ein anderes mal“, lehne ich das Angebot ab. Ich bin müde, hatte einen ereignisreichen Tag. Von meinen Reisen in den Nahen Osten und nach Nordafrika weiß ich, dass sich Einladungen zum Tee schon mal Stunden hinziehen.
„Du bist immer willkommen, mein Freund“, sagt Reza zum Abschied. Er nennt mir die Hausnummer seiner Wohnung in der Vogelstraße.
Ein paar Tage später stehe ich vor dem Mehrfamilienhaus in der Vogelstraße. Ich zögere lange, ob ich klingeln soll. Dann krame ich aus meinem Rucksack einen Geldbeutel hervor, den ich daheim herumliegen hatte. Er ist leer, außer dem Tagesticket Plus, mit dem Reza und ich von Nürnberg nach Forchheim gefahren sind. Ich stecke den Geldbeutel in Rezas Briefkasten und gehe davon.
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Lieber Christof, danke für diesen Beitrag! Dem ist eigentlich nichts hinzu zufügen :-)