
Dieses Gedicht ist ein Gastbeitrag von Matthias Kröner. Der mehrfach ausgezeichnete Lyriker und Autor veröffentlicht seit dem 1. Februar 100 Tage lang je ein Gedicht. Es geht dem gebürtigen Franken darum, „mit Menschen in Kontakt zu kommen, trotz Social Distancing und komplett virenfrei – mit Worten, mit Gedichten.“ Du kannst die Lyrische Post in einem täglichen Newsletter oder auf dem Blog Fairgefischt lesen und anschließend auf Facebook über die Gedichte diskutieren.
Steilküste
Da ist ein Haus
an der Steilküste, die jedes Jahr
Meter um Meter einbüßt,
je nachdem,
wie stark die Stürme sind, die Einschläge der Blitze, der Wind,
der die Wipfel zeichnet, das Wüten
der Welt.
Verunfallte Bäume klammern sich an den Hang.
Wäre ich Besitzer dieses Hauses,
würde ich vielerlei denken. Ich machte mir Sorgen, klar.
Wird die Terrasse
he-
runter-
bre-
chen,
während ich Kaffee trinke auf ihr
und den riesigen Schiffen zusehe, die den Horizont
entlangschreiten,
gemächlich, ruhig, ohne Aufregung.
Die Zuckerdose würde zerschellen und ich,
einige Vögel würden aufflattern
und die Fischer unter mir
in ihren langen Stiefeln zusammenzucken … –
Die Risse des Hauses fielen mir auf.
Ich würde mich ärgern, ich hätte das Haus verkaufen können.
Vor Jahren.
So ist es Schrott.
Trotzdem würde ich manche Nächte noch darin schlafen, allein,
wenn mein Leben, wie es manchmal ist,
durcheinanderkommt,
und ich nicht zurückfinde, zu dem, was mich ausmacht.
Das Haus hilft mir dabei. Die Makler,
die ich doch manchmal anriefe,
würden mich auslachen und längst nicht mehr herkommen
und heimlich über mich tuscheln und mich selbstbewusst
auf die schwarze Liste setzen,
die Liste unverkäuflicher Häuser.
Ich hätte Streit gehabt, wegen dem Haus,
mit meiner Frau, mit der Bank, mit den Kindern,
die die Bäume lieben
und dort Verstecken spielen: „Die Wurzeln halten doch!
Lass uns klettern, bitte!“
Doch ich würde auch stark gewinnen, durch dieses Haus,
jedes Mal, wenn ich es sehe,
ich würde die Abbruchkante verfolgen, den Fraß der Gezeiten,
ich würde wachsamer werden, hier an diesem Ort,
wachsamer als sonst,
und ich wäre dankbar,
weil ich durch dich, Haus an der Steilküste,
das Leben, den Tod, das Land und den Wind verstehen könnte,
auf eine Art, wie sie anderen nicht vergönnt ist.
Ein Wissen, das ich mitnehme, das in mir wohnt,
wenn die Terrasse herunter-
stürzt
und die Fenster
aus ihren Angeln hebt
und die Wände, schief wie die Bäume
am Abhang kleben,
und ich mich umsehen müsste, nach einem Kleinlaster,
um abzutransportieren,
was mir bleibt.
Das Gedicht ist so berührend, dass mir glatt die Worte fehlen. Danke dafür.
Lieben Dank für diese tolle Rückmeldung, Amrita. Das freut mich wirklich sehr!
Ein Haus an der Steilküste ist wie unser Dasein, welches viel zerbrechlicher ist, als wir es manchmal denken. Oft vergessen wir, wie kostbar das Leben ist. Danke für die bewegenden Zeilen. Liebe Grüße, Dario ?
Hallo Dario, das ist gut gesagt. Schön, dass dir die Zeilen gefallen haben! Liebe Grüße, Matthias
Ein wunderschönes, stimmungsvolles Gedicht voller Weisheit. Danke.
Liebe Barbara, vielen Dank – das ist ein sehr schöner Kommentar. Liebe Grüße, Matthias
Ein sehr schönes, berührendes Gedicht!
Danke, liebe Christel, das freut mich sehr! Vielleicht hast du ja Lust, die Lyrische Post zu abonnieren.
Das ist ein sehr berührendes, wunderschönes Gedicht. Ich antworte mit fünf kurzen Zitaten des Stoikers Aurelius, die vielleicht zu noch weiteren Gedichten zum Thema Steilküste inspirieren:
Marcus Aurelius Antonius, Selbstbetrachtungen. XII,14.
„So erfreue dich an dem Gedanken, dass du mitten
in solch einem Wogensturm in dir selbst
an der Vernunft eine Lenkerin hast.“
Marcus Aurelius Antonius, Selbstbetrachtungen. IV, 49.
„Wie der Fels im Meere,
an dem die Wellen unaufhörlich rütteln
– hier steht,
sodass ringsum der Brandung Ungestüm sich legen muss
– so stehe auch DU!
Denke, es sei kein Unglück,
aber ein Glück ist´s,
es mit edlem Mut zu tragen.“
Marcus Aurelius Antonius Selbstbetrachtungen. II,7.
„Warum dich durch die Außendinge zerstreuen?
Nimm dir Zeit, etwas Gutes zu lernen
und höre auf,
dich wie im Wirbelwind
umhertreiben zu lassen.“
Marcus Aurelius Antonius Selbstbetrachtungen. XI, 23.
„Sokrates nannte die Meinungen der Menge Poltergeister,
Schreckgestalten für Kinder.“
Marcus Aurelius Antonius Selbstbetrachtungen. XII, 22 :
„Alles ist Meinung, und diese hängt ganz von dir ab.
Räume also, wenn du willst, die Meinung aus dem Wege,
und gleich dem Seefahrer, der eine Klippe umschifft hat,
wirst du unter Windstille auf ruhiger See
in den sicheren Hafen einfahren.“
Liebe Evelyne,
danke für den sehr netten Kommentar – und die spannenden Zitate von Marc Aurel. Ich kann auch Epiktet sehr empfehlen, und wenn man es etwas heftiger mag den Kyniker Diogenes.
Liebe Grüße
Matthias