Der Reisende und der Wartende – ein Märchen für Eilige

5. April 2024 - von Dario Schrittweise - 14 Kommentare
Der Reisende und der Wartende - ein Märchen für Eilige (Foto: Dario Schrittweise)

Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Dario Schrittweise und ein modernes Märchen aus „Kaleidoskopische Welten“. Der Erzählband ist Darios Debütwerk und enthält 24 Kurzgeschichten, Miniaturen und szenische Texte. Auf Dario Schrittweise veröffentlicht der Nürnberger Autor Erzählungen und schreibt über Kunst, seine Reisen und Wanderungen.

Es war einmal ein Mann, der um die Welt reiste. Der Reisende trug alle seine Habseligkeiten in seinem Rucksack bei sich. Nur das Wichtigste fand darin Platz.

Manchmal entdeckte der Reisende unterwegs Gegenstände, die sein Interesse weckten. Er sammelte sie ein. Wenn sein Gepäck zu schwer wurde, überlegte er, was er davon nicht mehr benötigte. Dann entledigte er sich der überflüssigen Gegenstände.

Sein Weg führte ihn durch Kiefer- und Laubwälder. Er wanderte durch neblige Seenlandschaften, verschlungene Täler, entlang von Flüssen und über verschneite Gebirge.

Unterwegs hörte er Eulen und Spechte, die auf Nahrungssuche waren. Rehe flohen, als er an ihnen vorbeikam.

Er freute sich über die warmen Tage, schimpfte aber auch nicht, wenn es regnete oder schneite. Häufig begegnete er Feldarbeiterinnen, Jägern, Fischerinnen und Händlern, die ihm freundlich gesonnen waren. In Dörfern suchte er Verpflegung und Obdach für eine Nacht.

Eines Tages traf der Reisende an einer Kreuzung im Wald einen hageren Mann, der auf etwas zu warten schien. Er wirkte traurig und hatte viele Koffer bei sich, zwischen denen Spinnweben hingen. Daneben hatte er ein Zelt aufgebaut, in dem er vermutlich schlief.

„Wohin läufst du denn so fröhlich?“, fragte ihn der Wartende skeptisch.

„Ich reise, um die Welt zu entdecken und Neues zu lernen“, antwortete der Reisende und musterte die Habseligkeiten des Mannes.

„Worauf wartest du, guter Mann? Und warum hast du so viel Gepäck bei dir?“

„Ich warte auf das Leben“, sagte der Wartende resigniert. „Eine weise Frau erzählte mir vor einigen Jahren, dass sich hier an dieser Kreuzung mein Schicksal offenbaren wird.“ Er seufzte und ließ den Kopf hängen. „Ich habe meine Koffer gepackt. Ich möchte bereit sein, wenn es so weit ist. Leider warte ich schon sehr lange, vergeblich.“

„Auch mir erzählte eine weise Person, dass ich mein Schicksal auf dem Weg suchen soll.“

„So? Und bist du fündig geworden?“

„Einst habe ich wie du gewartet und gewartet, dass mich das Glück findet. Tage und Wochen sind vergangen. Ich hatte ebenfalls meine Siebensachen gepackt und habe ständig aus dem Fenster geschaut. Viele Menschen sind in unser Dorf gekommen. Sie sind an meinem Haus vorbeigezogen, doch niemand hat bei mir angeklopft.“

„Was hat dich daran gehindert, das Haus zu verlassen?“ Der Wartende sah ihn neugierig an.

„Ich hatte Angst davor, was draußen passieren würde. Was sollte ich tun, wenn es regnet? Werde ich abends immer ein Dach über dem Kopf haben? Werde ich stets etwas zu essen und zu trinken haben?“

„Solche Sorgen habe ich auch. Wie hast du sie überwunden?“

„Nun, ich habe die Geschichte vom Schicksal so gedeutet, dass ich selbst etwas dafür tun muss, um mein Glück zu finden. Warten allein hilft uns dabei nicht. Zunächst musste ich meine Ängste überwinden. Aber mit jedem Schritt bin ich mutiger geworden.“ Der Reisende verabschiedete sich freundlich und setzte seinen Weg fort.

Der Wartende saß weiter auf seinen schweren Koffern. Er machte sich Gedanken über das Gehörte.

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14 Kommentare für “Der Reisende und der Wartende – ein Märchen für Eilige”

  1. Lieber Dario (und lieber Christof – danke für’s Teilen),
    das ist eine ganz wunderbare Geschichte, die ich unseren Patient:innen vorlesen werde (ich arbeite in einer Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik).
    Ganz lieben Dank dafür!
    Herzlichst, Andrea

  2. eine wunderschöne Geschichte, die ich gerne weitergebe und auch zu mir passt, denn ich reise gerne und trenne mich gerade emotional von der Firma in der ich 44 jahre gearbeitet habe und plötzlich rausgedräbgt werde.
    servus

    1. Hallo Eli,

      schön zu lesen, dass dir meine märchenhafte Kurzgeschichte gefällt. :-) Ich denke, jeder Mensch hat sich schon mal im Leben mit dem Reisenden oder dem Wartenden identifiziert.

      Ich wünsche dir, dass du dich mühelos vom überflüssigen Ballast im Gepäck trennen und dann erleichtert deine Lebensreise fortsetzen kannst.

      Alles Gute dir,
      Dario

  3. Es erinnert mich an eine Phase in meinem Leben, in der ich selbst an einem Scheideweg stand. Ich musste lernen, dass das aktive Ergreifen von Chancen oft wichtiger ist als das passive Warten auf das, was kommen mag. Der Reisende in der Geschichte symbolisiert für mich das Streben nach Wachstum und Erkenntnis, eine Reise, die ich jedem nur empfehlen kann.

    1. Hallo Ronja,

      danke dir fürs Teilen dieser wertvollen Erinnerung und Erfahrung. Diese Interpretation der Rolle des Reisenden gefällt mir auch sehr gut. Ich wünsche dir eine erkenntnisreiche Weiterreise.

      Liebe Grüße,
      Dario

  4. Was für eine inspirierende Geschichte .. vielen Dank! .. auch ich bin eine „Suchende“ und überzeugt, dass alles in uns ist, was wir suchen .. finden können wir es auf den Wegen und Pfaden dieser wunderschönen Erde, im Einklang mit uns selbst .. ich muss mich nur trauen *smile* …Gerade bin ich dabei, meine erste kleine Reise von Chiasso nach Verona vorzubereiten … zu Fuss, mit meinem kleinen Rucksack mit dem Allernötigsten drin. Darum berührt mich deine Geschichte auch deshalb, weil sie von dieser Angst erzählt, die ich grad auch in mir drin spüre :-) Alles Liebe, Pascale

    1. Hallo Pascale,

      es freut mich, dass du meine Geschichte inspirierend findest. :-) Ich denke, vor jeder neuen Reise sind wir ein wenig aufgeregt. Das ist wie bei einem neuen Lebensabschnitt. Aber, sobald du die Reise begonnen hast, wird die Sorge der Freude weichen, dass du dich getraut sich, diesen Weg zu gehen. Die Strecke zwischen Chiasso und Verona hört sich spannend an. Ich wünsche dir viele schöne Erlebnisse und gutes Gelingen. :-)

      Alles Gute dir,
      Dario

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