Fußball, Fahrrad, Fernsehen
Im Sommer 1983 war ich 11 Jahre alt. Auch wenn ich kein guter Schüler war, hatte ich gerade die fünfte Klasse des Gymnasiums geschafft. Viel lieber als zu lernen, beschäftigte ich mich mit den – wie mein Vater zu sagen pflegte – „drei F“: Fußball, Fahrrad fahren und Fernsehen.
Ein Sommer in Südtirol
Den Sommerurlaub verbrachte ich wie jedes Jahr mit meinen Eltern und beiden Geschwistern in Südtirol. 1983 ging es nach St. Magdalena, einem am Fuße der Geislergruppe gelegenen Ortsteil der Gemeinde Villnöß.
Wir hatten eine Ferienwohnung in einem urigen Bauernhaus gemietet. Meine Schwester war zweieinhalb Jahre älter als ich und blätterte ständig in der Bravo. Ich teilte mir mit ihr ein Zimmer, das direkt oberhalb des Schweinestalls lag. An den beißenden Geruch kann ich mich noch heute erinnern. Mein Bruder war 9 und schlief auf dem Kachelofen in der Wohnküche. Eines Morgens fanden wir ihn schlafend auf dem Fußboden. Er war in der Nacht aus seinem ungewöhnlichen Lager gefallen und traute sich nicht mehr hinauf.
Es versprach, ein schöner Urlaub zu werden. Ein Kind braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Ich hatte meine Familie um mich, die Sonne schien ausgiebig, wir liefen durch die grandiose Bergwelt Südtirols und ich bekam mein Kicker-Abo per Post nachgesandt.
Reinhold Messners Geburtshaus
Meine Eltern hatten uns schon während der Anreise mit dem Zug verraten, dass unsere Ferienwohnung nur einen Steinwurf von Reinhold Messners Geburtshaus entfernt liegen würde. Ich war ein Fan des Bergsteigers und hatte schon zwei seiner Bücher gelesen, in denen er von seinen Abenteuern im Himalaya erzählte. So war ich gespannt, als wir gleich am ersten Morgen an dem Haus vorbeikamen. Es war ein zweistöckiger Bauernhof mit einem gepflegten Garten. Zu unserer Überraschung hingen dort tibetische Gebetsfahnen. Das konnte doch nur bedeuten, dass Reinhold Messner das Haus von seinen Eltern geerbt hatte und sich dort zeitweilig aufhielt. Sollte ich den vielleicht berühmtesten Bergsteiger der Welt zu Gesicht bekommen? Noch nie zuvor war ich so aufgeregt gewesen.
Jeden Tag kamen wir zweimal an Messners Haus vorbei. Zum einen morgens auf dem Weg zum Bus, der uns zum Startpunkt unserer Wanderung brachte, zum anderen am späten Nachmittag, als wir müde von der Bushaltestelle zurück zur Ferienwohnung liefen. Doch jedes Mal erwartete uns das gleiche Bild: Die weißen Gardinen an den Fenstern waren zugezogen, kein Auto parkte im Hof, die tibetischen Gebetsfahnen flatterten im Wind. Reinhold Messner war wahrscheinlich auf einer Expedition im Himalaya. Damals hatte er noch nicht alle vierzehn Achttausender ohne zusätzlichen Sauerstoff bestiegen. Ich hatte auf ein Wunder gehofft und wurde jäh enttäuscht.
Das Wunder geschieht
Zum Ende des Urlaubs musste ich mich wohl oder übel damit abfinden, nur Messners Gebetsfahnen gesehen zu haben. Am liebsten hätte ich sie aus der Verankerung gerissen, damit sie nicht mehr so blöde flatterten.
Ich beachtete das Haus gar nicht mehr richtig, als wir es am letzten Tag unseres Aufenthalts in St. Magdalena noch einmal passierten. Wenige Meter danach kamen uns auf dem kaum befahrenen Sträßchen ein Mann mit Vollbart und eine junge Frau mit langen blonden Haare entgegen. Es waren Reinhold Messner und seine damalige Lebensgefährtin und heutige Ehefrau Sabine Stehle. Messner grüßte nicht und schaute uns Fünf streng an. Wenige Augenblicke später sahen wir die beiden nur noch von hinten. Ich war erst perplex, dann völlig aus dem Häuschen. Wir fragten uns gegenseitig: „War er es wirklich?“. Ja, er war es!
Mein Wunsch ist mir Befehl
Noch heute erinnere ich mich an die Begegnung mit Reinhold Messner, als wäre sie gestern gewesen. Unzählige Male dachte ich in den letzten 30 Jahren daran zurück. Es war ein Moment, in dem mein Leben die Richtung wechselte. Jedes Leben hat solche Momente. Für mich war es damals ein wahres Wunder, dass mir der berühmte Bergsteiger leibhaftig entgegenkam. Und wenn schon Wunder ohne eigenes Zutun geschehen können, sollten doch auch Wünsche in Erfüllung gehen können, indem man sie sich einfach erfüllt. Für einen 11-jährigen taten sich da ganz neue Welten auf. Gleich nach den Sommerferien fing ich mit dem Basketball spielen an. Später als Jugendlicher kaufte ich mir einen Turnier-Billardtisch. Als Student reiste ich wochenlang mit dem InterRail-Ticket durch Europa. Mit Mitte 30 radelte ich 20.000 Kilometer um die Welt. Im letzten Jahr lief zu Fuß über die Alpen. Und jetzt mache ich mich als Autor selbstständig. All dies hat seinen Ursprung in der Begegnung mit Reinhold Messner.
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Hallo Christof,
solche Momente entscheiden oft den weiteren Verlauf, bzw. das eigene Handeln im Leben, voraus gesetzt wir nehmen sie wirklich und bewusst wahr. Manchmal haben auch die größten Baustellen im eigenen Leben solch eine wichtige Funktion.
Danke für´s Teilen deiner Gedanken
Elke