Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von meinem Vater, der schon immer gerne draußen war und seit seiner Pensionierung sieben Wanderführer geschrieben hat.
In den letzten Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit nach 1945 war die Versorgungslage in Deutschland sehr eingeschränkt. Lebensmittel erhielt man auf behördlich ausgegebene Lebensmittelkarten, die nur notdürftig zum Leben reichten. Verhungert ist damals bei uns wohl kaum jemand. Anderenorts war das anders. In der von deutschen Truppen belagerten Stadt Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, gab es unvorstellbares Leid. Während der 871 Tage langen Blockade erlitten über eine Millionen Menschen den Hungertod.
Untergewichtige sah man in diesen Jahren in Deutschland schon in großer Zahl. Ein eigener Garten war von unschätzbarem Wert. Wir besaßen einen solchen am Südhang unterhalb der Veste Coburg. Er bot mir von frühester Kindheit an für viele Jahre die herrlichsten Spielmöglichkeiten. Und er verschaffte uns die erwünschte Ergänzung zu der knappen Nahrungszuteilung. Da in dem Garten Wasser nur in einer Regentonne vorhanden war, konnte man Gemüse kaum anbauen. Kartoffeln waren aber möglich. Wir brieten sie im offenen Holzfeuer. Das verbrannte Äußere entfernte man, das Innere schmeckte abenteuerlich nach Rauch und Wildem Westen. .
In unserem Garten standen viele alte Obstbäume, die der obstsortenkundige Eigentümer Jahre zuvor gepflanzt hatte. Da waren eine Menge Zwetschgenbäume dabei, deren eher kleine Früchte meist Ende September oder erst im Oktober reif wurden. Ihren herb-säuerlichen Geschmack habe ich noch heute auf der Zunge. Meine Mutter kochte sie im Gasbackofen zu Zwetschgenmus ein. Das dauerte viele Stunden und es roch herrlich in der ganzen Wohnung. Ungefähr 100 große Gläser war die Ausbeute eines Herbstes. Das reichte fast bis zum Sommer des nächsten Jahres.
Auch ein uralter Birnbaum stand im Garten. Meine Mutter hat ihn mit nicht ungefährlicher Kletterei abgeerntet. Die Sorte hieß Die Köstliche von Charneux. Diese Birnen waren wirklich köstlich. Beim Hineinbeißen lief süßer Saft heraus. Lagerfähig unter den damaligen Gegebenheiten war die Sorte nicht, so dass man sie bald verbrauchen musste. Eine beliebte Zwischenmahlzeit war eine Brotscheibe mit Birnenschnitzen.
Apfelbäume fanden sich in größerer Zahl auf dem Grundstück. Sie reiften in der Zeit zwischen Juli (Kornäpfel) und Mitte Oktober (Lederapfel, wohl eine Art Boskop). In den Monaten dazwischen konnte man den schönen roten Danziger Kantapfel und den Gelben Edelapfel ernten, Sorten von ausgezeichnetem Geschmack, die heute kaum einer mehr kennt. Die Äpfel wurden überaus vorsichtig auf einem Leiterwägelchen nachhause gefahren und auf Obsthürden im Keller bis zum Ende des Winters gelagert. Das war ein wertvolles Besitztum. Man musste darauf achten, dass es einem nicht schon im Garten durch Diebstahl entzogen wurde. Die aus dem Krieg zurückgekehrten Väter organisierten sogar eine Art nächtlichen Wachdienst, um unerwünschte Gäste fernzuhalten. Heutzutage ist Obstdiebstahl ein höchst seltenes Delikt geworden.
Ich bin froh, dass ich eine solche Kindheit im Garten – und später auch auf vielen Streifzügen mit Freunden durch Feld und Flur – erleben durfte und ohne Fernsehen, Computer und Smartphone aufgewachsen bin.
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Schöner Text! Wir hatte in den 50ern und 60ern auch so einen Garten. Ich denke oft und gerne an die Zeit zurück. Schade, dass es die Kleingartenanlagen heute praktisch nicht mehr gibt.