Im letzten Sommer erfüllte ich mir den über zwanzig Jahre lang gehegten Traum von München nach Venedig zu gehen (genauer gesagt bin ich bereits in meinem Wohnort Forchheim gestartet). Es wurde eine der unvergesslichsten Reisen meines Lebens. Zum Zeitpunkt der Tour war ich 40 Jahre alt und hatte außer regelmäßigen Wanderungen im Mittelgebirge ewig keinen Sport gemacht. So jemandem traut man eine Alpenüberquerung gar nicht zu, oder. Immerhin müssen 550 Kilometer, 25.000 Höhenmeter und 1.000.000 Schritte bewältigt werden.
Doch wer einigermaßen fit ist, kann diese Tour über die Alpen konditionell schaffen. Den inneren Schweinehund muss man bei den vielen An- und Abstiegen allerdings besiegen können. Zudem sollte man die Gefahren im Hochgebirge nicht unterschätzen. Schwindelfreiheit und Trittsicherheit sind Voraussetzung, ein paar Probetouren in den Alpen dringend anzuraten.
Es gibt reichlich Gründe, diese einen guten Monat dauernde Wanderung zu machen. Auf zehn davon gehe ich näher ein.
1. München
München zählt zu den schönsten Großstädten Deutschlands. Hier eine Fernwanderung zu beginnen, bietet sich nicht nur deswegen an. Die Anfahrt mit der Bahn gestaltet sich problemlos, der Marienplatz – der Startpunkt der Tour – ist vom Hauptbahnhof in wenigen Minuten zu erreichen und zur Isar, der der Wanderer die ersten Tage flussaufwärts folgt, ist es auch nur ein Katzensprung.
2. Minimalismus
Wer jemals Venedig erreichen möchte, muss sich auf das Wesentliche beschränken. Man kann nur das Nötigste mitnehmen, denn man trägt die gesamte Ausrüstung auf dem Rücken. Tagsüber gilt es die Etappe zu bewältigen, nach Ankunft auf der Berghütte sich zu regenerieren. Kommunikation mit den Daheimgebliebenen ist nur eingeschränkt möglich. Minimalismus bedeutet, sich vom Ballast des materiellen Überflusses, von negativen Beziehungen und unnötigen Verpflichtungen zu trennen. Diese Einfachheit ist in unserem komplizierten Alltag meist unbekannt. Auf dieser Fernwanderung wird man sie erleben und als befreiend empfinden.
3. Nachhaltigkeit
Die Stadt hinter sich lassen, sich an der frischen Luft bewegen, malerische Landschaften genießen: Der Trend zum Natururlaub wächst. Umwelt- und sozialverträglich ist dieser aber per se nicht. Die Wanderung von München nach Venedig kann eine nachhaltige Reise werden. Die Beine sind das Fortbewegungsmittel mit den geringsten CO2-Emissionen. Da der Ausstoß des zur Erderwärmung beitragenden Treibhausgases bei Flügen sehr hoch ist, sollten sowohl An- als auch Rückreise mit der Bahn oder dem Bus erfolgen. Auch der Verlockung, Anstiege mit der Seilbahn zu überbrücken, kann man widerstehen, wenn genügend Kraft in den Beinen steckt. Wer schließlich Fauna und Flora schützt, indem er die ausgewiesenen Pfade nicht verlässt, hat in Sachen Nachhaltigkeit vieles richtig gemacht.
4. Die Alpen
Nacheinander überschreitet der München-Venedig-Wanderer das Karwendelgebirge, die Tuxer Alpen, die Zillertaler Alpen und die Dolomiten. Der Weg wird ihm sein Leben lang in Erinnerung bleiben. Die Alpen müssen sich in Sachen Schönheit, Faszination und Vielfalt vor keinem Gebirge der Welt verstecken, auch wenn andere weit höher aufragen.
5. Begegnungen
Begegnungen mit Menschen sind das Salz in der Suppe jeder Fernwanderung. Zwischen Marienplatz und Markusplatz trifft man auf Hüttenwirte, Bergbauern, Dorfbewohner und andere Einheimische. Eine richtige Beziehung kann man jedoch nur zu den Wanderern aufbauen, die ebenfalls auf dem Traumpfad München-Venedig unterwegs sind. Immer wieder sieht man bekannte Gesichter. Man läuft tagsüber zusammen ein Stück des Weges oder teilt sich abends einen Tisch auf der Berghütte. Durch die gemeinsame Passion kommt man schnell ins Gespräch. Herkunft, gesellschaftliche Position und Generation spielen keine Rolle. Die Atmosphäre in den Alpen ist sowieso sehr gemeinschaftlich. Man hilft sich gegenseitig mit Pflastern aus, diskutiert über das Wetter der kommenden Tage und läuft gefährliche Abschnitte zusammen. Nanni und Johann, ein Pärchen auf Hochzeitsreise, sah ich zum ersten Mal kurz hinter München. Obwohl wir uns nicht verabredeten, trafen wir uns in den nächsten vier Wochen regelmäßig. Mehrmals liefen wir tagelang miteinander, gingen durch Dick und Dünn, trennten uns und standen später freudig überrascht wieder voreinander.
6. Entdeckung der Langsamkeit
Die heutige Zeit ist von Schnelllebigkeit und Reizüberflutung geprägt. Unter der Woche sind wir auf der Arbeit stark beansprucht, stopfen aber auch unsere Freizeit mit Hobbys und Terminen voll. Am Samstag machen wir den Konsumterror mit, anstelle innezuhalten. Am Sonntag sitzen wir vier Stunden im Auto, um zwei Stunden durch die Natur zu hetzen. Diesem Unsinn kann man – zumindest auf Zeit – entsagen, indem man so langsam wie möglich und so schnell wie nötig nach Venetien wandert. Ich bin davon überzeugt, dass es uns besser gehen würde, wenn wir mehr gingen.
7. Gewichtsreduktion
Eigentlich ist es ganz einfach abzunehmen. Man führt dem Körper weniger Energie in Form von Essen und Trinken zu, als durch Grundumsatz und Bewegung verbraucht werden. Wie schwer das in unserem vom Verharren geprägten Alltag ist, weiß jeder. Umso schneller purzeln die Pfunde auf dem Traumpfad München-Venedig. Bei täglich durchschnittlich 20 Kilometer Wegstrecke, 1.000 Höhenmeter Aufstieg und 1.000 Höhenmeter Abstieg verbraucht man derart viele Kalorien, dass diese über die Nahrungsaufnahme kaum ausgeglichen werden. Ich verlor mit dieser “Wunderdiät” mehr als fünf Kilogramm Körpergewicht.
8. Gesundheit
Bewegung an der frischen Luft hat nachweislich gesundheitsfördernde Wirkung auf Körper und Geist. Sie vermindert das Risiko an Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes und Depressionen zu erkranken. Der Wanderer freut sich über mehr Fitness, mehr Glücksgefühle und mehr Lebenserwartung. Nach meiner Rückkehr fühlte mich so gesund wie seit einer Ewigkeit nicht mehr. Dieses neue Lebensgefühl wollte ich nicht mehr verlieren. Nach acht Jahren Pause begann ich wieder mit dem Basketballspielen und zum ersten Mal in meinem Leben schnürte ich regelmäßig die Laufschuhe.
9. Selbstvertrauen
Wer zu Fuß von München nach Venedig läuft, vollbringt Außergewöhnliches. Zurecht steht der Ankömmling stolz auf dem Markusplatz. Mein Selbstvertrauen war in jedem Fall viel größer als ein paar Wochen zuvor, als ich voller Zweifel startete. Dieses gewonnene Selbstvertrauen verleiht einem auch nach der Rückkehr Flügel. Wer es über die Alpen schafft, sollte doch die Herausforderungen im Alltag mit links bewältigen. Für überfällige Veränderungen kann nun der richtige Zeitpunkt sein. Was ich schon lange ahnte, wurde unterwegs Gewissheit: Ich lasse in Zukunft das ungeliebte Programmieren sein und mache mich als freier Autor selbstständig.
10. Venedig
Nach über vier Wochen auf dem Markusplatz anzukommen, ist das Finale Grande einer an Höhepunkten reichen Wanderung. Trotz Touristenmassen und Problemen mit verfallenden Palästen und häufigen Überschwemmungen gilt Venedig als eine der schönsten Städte der Welt. Zum Glück ist La Serenissima („die Durchlauchtigste“) weitläufig genug. So findet sich abseits des Besucherstroms sicher eine schöne Piazza, auf der man in Ruhe auf die ereignisreiche Alpenüberquerung zurückblicken kann.
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sowas wäre auch schon immer mein Traum. Habe es aber nie gemacht und bin jetzt zu alt und nicht mehr fit genug
Schön das du es geschafst hast.
LG Anneken